Hikikomori
er stehen: Gelächter. Er konzentriert sich auf den genauen Ausgangsort der Geräusche, es ist die dem Kamin gegenüberliegende Wand, da, wo das t-förmige Sofa auf dem Teppich steht, auf dessen flauschigem Stoff er früher immer so gerne gelegen hatte. Anna-Marie spricht in die Fernsehgeräusche hinein, sagt, wie flach und blöd sie diese und jene Figur findet. Karola hingegen kommentiert die trostlosen, gänzlich uninspirierenden Kostüme und Ausstattungen. Er sieht Karola vor sich, wie sie im Schneidersitz als pyramidenförmige Figur auf dem Sofa sitzt, sich mit den spitzen Fingern den Nacken massiert und ab und zu beiden Wein nachschenkt, weil es ja ihr Abend ist: Crime Time .
Till bekommt Lust, die Idylle aufzumischen. Er weiß, worauf diese Abende hinauslaufen. Oskar wird direkt von der Praxis zur Driving Range fahren und entgegen seiner eigenen Empfehlung den Golfarm überstrapazieren, nur um nicht hier sein zu müssen, denn auch dieser Abend wird nach all der Harmonie kippen und im Streit enden, Anna-Marie wird Karola ihre aufgesetzte Jugendlichkeit vorwerfen und ihr entgegenschreien, wie peinlich das vor den anderen für sie sei. Till stellt sich Karola in strammer Verteidigungshaltung vor, jeden Muskel angespannt, den Blick keine Sekunde von der Tochter lassend. Wie sie sich bemüht, ganz deutlich zu sprechen, aber die Worte in ihrem Mund übereinanderstolpern, sich gegenseitig den Sinn nehmen. Wie die Worte nicht zu ihrer eleganten Erscheinung passen werden, wie Anna-Marie sagen wird: »Guck, du lallst wieder!« Wie von diesem Augenblick an nichts mehr zu retten sein wird, wie die erste Tür wuchtig ins Schloss fällt: »Du spinnst doch!« Die zweite. Danach meist Stille.
Noch aber plänkelt die Serie vor sich hin, noch schwillt die Themenmelodie ab und an. Till fühlt sich zu schwach, um den Verlauf des Abends umzulenken. Vorsichtig zieht er die Küchentür hinter sich zu und schaltet das Licht an: Die Küche funkelt von Stahl und polierten Granitflächen. Er bestreicht die Toastscheiben zentimeterdick mit Mayonnaise, belegt sie mit Kochschinken und Bergkäse. Er hat längere Zeit nicht mehr gegessen. Vier oder fünf Toasts will er in seinem Zimmer bunkern. Indessen er mit dem Blick über die Gegenstände wandert, spürt er die Wärme des Toasters in seinem Rücken. Er kann es nicht mehr sehen: Stahl und Granit. Am liebsten würde er alles mit schlichtem Holz überziehen, kein Nussbaum, jedes einzelne Gerät mit einem Holzkasten warm ummanteln.
Till muss alle Konzentration auf das Spiel verwenden, um nicht als Erster per Kopfschuss zu Boden zu sinken. Nur in den wenigen Sekunden, in denen keine Gefahr lauert, greift er nach dem Toaststapel. Till ist nicht mehr derjenige, der vor allen anderen ausscheidet und auf ihre Hilfe warten muss, um aus der Versteinerung befreit zu werden. In dieser Runde gehört er sogar zu einem der Letzten seines Teams. Er will schon einen provokanten Kommentar ins Textfeld des Teamspeaks tippen, da erwischt es ihn doch. Er war in den letzten Tagen zu sehr im Level der V2-Rakete herumgeirrt, das er von früher noch halbwegs zu kennen meinte, als dass er jetzt seinen genauen Ort durchgeben könnte. Wo soll ich dich defreezen??? , eilt ihm Das Tapfere Sniperlein zu Hilfe. Es ist ein langer, mit Regalen versehener Raum. In den Regalen stehen Flaschen, grüne und rote, dicht gedrängt, und wenn Till genau hinschaut, kann er sehen, wie ihre Grenzen verschwimmen, sich leicht überschneiden, miteinander verschmelzen. An der freien Wand hängt eine Flagge, sie zeigt auf rotem Hintergrund ein mannshohes Hakenkreuz. Flagroom, glaube ich, schreibt Till. Bitte defreezen! Lange muss er nicht warten, schon biegt Das Tapfere Sniperlein in Offiziersuniform um die Ecke, neigt sich so lange über Tills erkalteten Körper, bis er erlöst wird und wiedergeboren am anderen Ende des Levels aus dem verpixelten Himmel fällt. Thnx , schreibt Till, zückt das Scharfschützengewehr und beginnt den weitläufigen Innenhof zu durchqueren.
Till versucht, stets aufseiten der Nazis zu spielen. Es klingelt und auf dem Display des Smartphones erscheint Kim. Till inspiziert den Zünder der Rakete, die Alliierten haben noch keine Bombe platziert. Immer noch leuchtet einer der seltenen Schnappschüsse von ihr auf, ein Foto, das Till nur nach endlosen Überredungsversuchen machen konnte, denn Kim wurde nie müde zu behaupten, ihre Seele würde gefangen werden, wenn er sie mit dem Smartphone abfotografieren
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