schon zu Kims Zeiten auf der Waldorfschule wenig für den gepriesenen künstlerischen Ausdruck übrighatte, regelrecht versteckte: Auf den ersten Blick glückliche Familien im Gruppenporträt vor idyllischen Küstenlandschaften, die bei näherem Betrachten sich in ihr Gegenteil verkehren, das Meer sich als ein trüber Sumpf entpuppt, die Hand des Vaters dann nicht mehr zufällig den Körper der Tochter umarmt.
Als Kim den Zigarettenstummel in den Schnee einreibt und die Augen schließt, als sei ihr Tagwerk nach dem Rauchen vollbracht, zündet Till sich eine weitere Zigarette an. Die langen Reihen der Einkaufenden lichten sich, er tippelt mit den Füßen, um Wärme zu erzeugen und die Kälte ertragen zu können. Kim bewegt sich nicht. Sie ist sehr geduldig, vielleicht weiß sie auch, dass sie von ihm beobachtet wird. So wie sie sich schon früher immer gegenseitig herausgefordert hatten. Als sie in derselben Reihe saßen, als Kims Mutter die Waldorfschule noch nicht als elitär und snobistisch verachtete, stellten sie sich andauernd kleine Aufgaben. Aufgaben, die den Mut schulen sollten, mit denen sie aber auch den anderen zeigten, dass sie zusammengehörten: Till, der charismatische Schönheitschirurgensohn, Kim, die nachlässig Gekleidete, die immer ein kleines bisschen so aussah, als hätte sie gerade Beeren gepflückt oder dem Imker beim Einholen der Waben geholfen, und der dabei etwas vollkommen Eigenes und Starkes anhaftete. Zum Beispiel machte einer etwas vor und der andere hatte es nachzumachen. Kim durchquerte die Stuhlreihen und schaltete das Licht im Klassenzimmer aus, dann wieder an und erklärte Frau König, dass sie den Primärkontrast so faszinierend finde. Dann ging Till forsch zum Schalter, bereits unter dem Gelächter der anderen, musste lediglich eine Bewegung antäuschen, da packte Frau König zu und zog ihn in den Flur hinaus. Sie sagte etwa: »Du brauchst eine Auszeit!«, und ließ ihn so lange alleine auf dem Flur zurück, bis Kim die Lehrerin überredet hatte, ihn wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Till hatte vor Jahren zu den wenigen gehört, die mit der Unterstützung einiger Eltern, Oskar vorneweg, einen offenen Brief unterschrieben hatten, der Frau König als ungerecht und launisch darstellte. Außerdem wurde ihr vorgeworfen, sie bevorzuge Mädchen, was sie nicht einmal abstritt. Oskar hatte es sich nicht verkneifen können, in einem Nebensatz auch ihre verbrauchte Haut zu thematisieren, und Till als sein Sohn war seitdem der Feind Nummer eins. Noch schlimmer wurde es, als Kim die Schule wechseln musste und Till als Opfer von Frau Königs Willkür ohne seine engste Verbündete zurückblieb.
Der Schnee stapelt sich Schicht um Schicht, ein blinkender Schneepflug prescht über den Platz vor und zurück. Till zückt sein Smartphone und schaut auf die Uhr, der letzte Bus ist gerade abgefahren. Zu Fuß braucht sie knapp eine Stunde bis nach Hause, ein Taxi wird sie sich nicht leisten. Sie würde wahrscheinlich sogar die Fragen der Eltern am Frühstückstisch nach ihrem künstlerischen Befinden in Kauf nehmen, könnte sie nur neben ihm im Bett liegen. Am nächsten Morgen aber müsste sie ihn allein im Zimmer zurücklassen. Zum Abschied würde sie sich auf die Zehen stellen und zu ihm hochstrecken, um ihm einen Kuss auf den Mund zu drücken. Wieder auf ihre reale Größe geschrumpft, die ausladende Kapuze schon im Flur über den Kopf gezogen, würde sie die Wohnung verlassen und sich durch den Regen hindurch davonmachen. Till würde alleine in seinem Zimmer zurückbleiben. Auch eine Nacht mehr oder weniger würde daran nichts ändern.
Das Fahrzeug hat mittlerweile den Platz passabel freigeschippt und Streusalz auf den Pflastersteinen verteilt. Nun ist es an Till vorbei in die Fußgängerzone eingebogen. Als ginge eine magische Anziehungskraft von ihm aus, lässt Till seine Freundin zum ersten Mal aus dem Blick und wendet sich dem Fahrzeug zu. Ihm nach führt sein Weg von nun an in eine andere Richtung. Die erste Zeit fährt der Schneepflug langsam vor Till her, rechts und links Schnee aufwirbelnd. Es kommt ihm wie ein Begräbnis vor, das Fahrzeug an der Spitze der Prozession, er dicht dahinter. Dann biegt es ab und lässt ihn alleine zurück. In Frau Tretters Bäckerei brennt noch kein Licht.
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15.03.2011 05:08 Uhr
liebe kim,
vielleicht stehst du noch am popperbrunnen, während ich das schreibe. du hast schön geraucht. ich habe eingesetzt,