Hikikomori
wenn du eine pause machtest. so lange, bis du wieder anfingst. unser rauch hat dieselbe luft erfüllt. egal wo wir sind, erinnerst du dich? das haben wir so ausgemacht. der mensch braucht den anderen nicht physisch, du hast das gesagt. man müsse sich nicht immer sehen. mir fiel das weniger schwer als dir, ich muss nämlich nur einen schritt vor mein zimmer gehen, schon beginnt der trubel. oder: ich muss nur lange genug im zimmer bleiben, da poltert einer herein.
ich habe etwas vor, kim. ich will zeit und raum selbst bestimmen. das eine rinnt mir durch die finger, dem anderen rinne ich durch die finger. zumindest will ich selbst bestimmen, was da durchrinnt. alles andere soll an mir abprallen. wie an dir. alles: die klamotten, die du nicht magst, die räume, die sie uns designen, die tv-shows, die uns besänftigen sollen. schau dir doch die fernsehgeneration an. sie zappt sich durch die kanäle und sucht sich eine der vorgefertigten welten aus, in der sie aufgeht. sie tauscht sich selbst gegen bloße figuren ein und fühlt alles das nach, was die figuren erleiden! und selber stumpfen sie alle ab, weil sie sich selbst aus den händen geben; da ist das internet anders, da muss man selbst aktiv werden, um voranzukommen. bei anna-marie ist als letztes das licht ausgegangen, sie lässt sogar zum einschlafen immer den fernseher laufen. vater hat es aufgegeben, sie dazu zu ermahnen, sich wenigstens nachts eine pause zu gönnen. und da bin ich auf seiner seite.
nun bricht meine zeit an, da alle schlafen, kann ich ungestört essen besorgen. nachdem ich mir einen handvoll wasser ins gesicht geklatscht habe, schleiche ich weiter in die küche und reihe scheiben frisch geschnittenen brots nebeneinander auf. ich warte, bis die butter weich genug ist. du weißt, wie ich sonst löcher in die scheiben reiße. ich belege sie mit pfeffersalami, schinken und irgendwelchen käsescheiben. auf die schinkenbrote kommen noch parmesansplitter, dann nehme ich sie mit auf mein zimmer. milch ebenso. alles andere würde mich fertigmachen. ich schalte alle geräte und das licht aus. möglichst wenig auf sich wirken lassen. du wirst das esoterisch finden, aber es geht mir um die schulung meines geistes, ich mache spezielle übungen, um mich selbst klarer zu sehen, den willen zu stärken, bewusster zu werden. von den schinkenbroten auf der linken seite arbeite ich mich bis zu den salamibroten ganz rechts vor. wenn es dunkel ist, schmeckt alles intensiver; der parmesan wie aus feuchter erde gegraben. auch deswegen verlagere ich das essen in die nachtstunden. zweimal die woche dusche ich. laut statistik reicht das. ich lebe ja nicht in den tropen. während ich dusche, lasse ich die waschmaschine laufen. ich dusche sehr lange. ich kauere, wie ich das auch früher immer gemacht habe, in der knöchelhoch mit wasser gefüllten dusche. mein körper fängt dann, einmal nass, in der kalten luft schnell zu frösteln an. tausend kleine nadelstiche. zusätzlich lasse ich kaltes wasser immer wieder in stößen auf mich herabprasseln. in der kälte merke ich erst, dass ich überhaupt da bin. bis die wäsche fertig ist. die klamotten verteile ich auf den Wäscheständer in meinem Zimmer. du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell alles trocknet. ich drehe die heizung auf und schaue den einzelnen kleidungsstücken dabei zu. am anfang schmiegt sich das feuchte t-shirt noch über die drähte. später hingegen wird es steif, knittrig, man merkt, wie es schnell herunter möchte. das sind so neue wahrnehmungen. es ist mir wichtig, dass du meine bemühungen siehst. dass du siehst, wie ich kämpfe, alleine. wie wir uns erst einmal gehen lassen müssen, kim, bis wir uns an einem ganz anderen ort, als ganz andere menschen wiedersehen.
es könnte langsam morgen werden. ich erahne den frühling. der frühling als prinzip ist aus der mode gekommen, wusstest du das? ich meine, er ist zwar noch eine notiz in den nachrichten, wo sie uns sagen, dass wir wieder gute laune haben sollten. aber dass die natur sich eine neue hülle überwirft, wiedergeboren wird, sagt keiner. die sonne ist noch nicht aufgegangen, bald steigt nebel vom fluss auf und legt sich ins straßenbett, bald werden die ersten vögel auf der fensterbank sitzen.
vor dem morgengrauen stelle ich das geschirr in die küche, spüle von hand, leiser als unsere spülmaschine. ich will nicht da sein, wenn sie aufwachen, will nicht mit ihnen sein, ich will für mich sein. ich will meine gedanken organisieren, wie du
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