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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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wollte. Ihre Haare sind auf dem Bild noch etwas kürzer als jetzt, die Sommersprossen jedoch scheinen sich in der letzten Zeit noch vermehrt zu haben. Auf der Stirn und den Wangen hat sie feine Tuschesprenkel, die man nur erkennen kann, wenn man auch weiß, dass das quadratische Stück Pappe vor ihr auf dem Tisch eines ihrer Bilder ist. Oft hat sie sich über ihre leicht abstehenden Ohren geärgert und spielte mit dem Gedanken, alleine deswegen ihre Haare wachsen zu lassen. Das sei vererbt, sagt sie immer, von ihrem Erzeuger, überhaupt, alles Unglück habe sie von ihm. Er, Till, sei der einzige Glücksfall in ihrem Leben gewesen, weil er der Einzige sei, der sich nach einer gewissen Zeit nicht wieder davongemacht habe. Till findet, dass Kim die Sorte von Mädchen ist, die auch mit leichten Segelohren unheimlich gut aussieht.
    Wartet … , tippt er, und im Pause-Modus beginnt seine Spielfigur wie trunken vor dem Zünder zu schaukeln.
    »Ja?«
    »Ich bin an der Haltestelle.«
    »Wo?«
    Apex, bezieh Stellung!
    »Ich bin gleich da.«
    Apex?
    »Ich komme zu dir.«
    Till rührt sich nicht.
    Apex, linke Flanke angreifen! Linke Flanke angreifen!
    »T ill?«
    Apex, bezieh Stellung! Bezieh Stellung!
    »Bist du noch da? Ich komme jetzt zu dir.«
    »Warte.« Till tippt etwas in den Computer. Auf dem Bildschirm erscheint: Apex geht AwayFromKeyboard , doch bevor er sich in den sicheren Beobachter-Modus schalten kann, wird er von einem Gegenspieler namens Pwnsauce in den Hinterkopf getroffen und sinkt zu Boden.
    »Popperbrunnen«, sagt Till leicht gehetzt.
    »Okay«, sagt Kim, »ist besser so.«
    Pwnsauce schändet seine Leiche, indem er über ihm in die Hocke geht. Till drückt Escape.
    Kim lehnt an einer der für den Winter abgedeckten Seiten des Popperbrunnens. Aus der Abdeckung ragt eine mannshohe Statue hervor, über Kims mit Schneeflocken benetzten Haaren verläuft deren Lanze und zielt auf einen unbestimmten Punkt. Till kommt es vor, als verteidige sich die Heldenfigur gegen die nach Hause schlendernden Menschenströme, um nicht von ihrem Sog mitgerissen zu werden. Ein eisiger Wind weht über den Platz, Kim hat ihre linke Hand in die Manteltasche gesteckt, die rechte führt ab und an eine Zigarette an die Lippen. Genüsslich raucht sie, als wäre das in diesem Moment das Größte. Bemützte Passanten überqueren den Platz von der Fußgängerzone kommend, rechts und links tragen sie Taschen, manche schauen auf, als sie auf Kims Höhe sind, senken den Blick aber wieder, als gäbe es schon einen Grund, dass sie einsam in der Gegend herumsteht.
    Von der Passage aus, die den Arm der Fußgängerzone mit dem Platz verbindet, hat Till gute Sicht. Die Schaufenster der Passage sind bereits beleuchtet, mit dem Rücken gegen die Scheibe gelehnt, kann Kim ihn nicht entdecken.
    Kim hatte über Jahre versucht, sich für die neuesten Trends zu begeistern, war in ausgewaschene Röhrenjeans geschlüpft, hatte es mit neonfarbenen Trainingsjacken probiert. Aber was sie auch versuchte, es stand ihr nicht, wirkte wie fremd, wie von außen aufgesetzt. Wenn sie und Anna-Marie in Tills Zimmer ihre Einkäufe präsentierten, verkrampfte sie sogleich, zog sie den Kopf zwischen die Schultern und streckte den Hals dann wieder unnatürlich durch. Schnell war der Punkt erreicht, an dem Till sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte, denn es schien ihm, als wehrte sich jede einzelne Partie ihres Körpers gegen die an ihr wie Kostüme wirkenden Klamotten, als könne Kim nicht anders, als sie durch ihre Haltung ins Lächerliche zu ziehen. Die trendigen Klamotten machten nicht Kim cool, Kim machte die trendigen Klamotten uncool. Sie solle nicht immer so kritisch schauen, beschwerten sich Anna-Maries engste Freundinnen, es mache sonst keinen Spaß mehr, mit ihr durch die Straßen zu ziehen. Und Till wusste, wie sie wirklich lieber zu Hause auf ihrem Tischchen das Papier ausbreitete, diverse Bleistifte aufreihte, das Kohleset, das ihr Karola geschenkt hatte, aufklappte und die Bilder, die sie in ihrem Kopf mit sich herumtrug, aufs Papier zeichnete, anstatt vor Spiegeln zu posieren. Das passte auch viel besser zu ihrer Haltung, den ewig fragenden Augen, die auch noch, wenn Till in der Nacht über ihren Hüftknochen, wenn er ihr durchs kurzgeschorene Nackenhaar strich, an jeder einzelnen seiner Bewegungen zu zweifeln schienen. Ein permanenter, auf alles gerichteter Zweifel. So entstanden Bilder, die sie keinem zeigen wollte, die sie vor ihrer Mutter, die auch

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