Hikikomori
Atem den lädierten Körper verlässt.« – »Na ja«, sage ich und kratze mich unter der Achsel. – »Pneuma«, sagt er und macht eine kreisrunde Bewegung in der Luft, die so etwas wie Seele symbolisieren soll. Schon besser.
Einmal pro Tag besucht der Vater seinen kranken Sohn. Eine alle Beteiligten beruhigende Routine. Abwechslung bietet das unter den Klamotten vergrabene Smartphone, sein permanentes Klingeln und Surren. Jan ruft seit kurzem wieder an, möchte mir bestimmt von den laufenden Prüfungen berichten und mir einreden, auch ich hätte das locker geschafft. Ich gehe nicht ran, ich sage nicht: »Es geht mir nicht ums Durchkommen, jeder Idiot kommt durch.« Das sage ich nicht. Vielleicht aber möchte er etwas zur Party sagen, vielleicht, dass ich mich danebenbenommen habe und mich doch entschuldigen solle. Ich habe meine Konsequenz daraus gezogen, könnte ich ihm entgegnen, falls er das noch nicht mitbekommen hat.
Mein Wille türmt sich meterhoch. Die knapp zwei Wochen des Im-Zimmer-Bleibens zeigen ihre Wirkung. Auf Knopfdruck, egal wie penetrant Mutter vor meinem Zimmer auf und ab geht, kann ich mich aus meinem Körper herauskatapultieren und über der Welt schweben. Von dort habe ich eine grandiose Sicht auf die Dinge, Jan würde mich darum beneiden, denn unter mir breiten sich in klaren Strukturen die Umrisse und Besonderheiten der Gebäude ringsum aus, ohne Mühe sehe ich die Leerstellen, sehe, wo man etwas abtragen müsste, um Platz für Neues zu schaffen. Andere Beschäftigungen brauche ich erst einmal nicht. Ich muss nicht tausend Menschen meine Freunde nennen, muss nicht noch hoch oben auf dem Kilimandscharo für jedermann erreichbar sein. Lieber schule ich meine Wahrnehmung und schäle dabei eine Mandarine.
Wenn ich sehr wach und klar bin, spüre ich die Zeit, wie sie mich umspült und mit sich fortreißt. Man muss nur lange genug still sitzen, schon fühlt man die Haare wachsen. Nicht monatlich einen bis zwei Zentimeter – ich fühle jeden einzelnen Stoß, das ewige Nach-vorne-Treiben, dieses pflanzliche Nicht-anders-Können. Ich treibe aus wie ein Zwiebelknospe, auch wenn die Zwiebel schon längst von einer schrumpeligen Hand aus der Erde gerissen, ihre Wurzeln mit einer Hacke abgeschlagen wurden, steckt immer noch Kraft in ihr. Für die nächsten Wochen. Für Monate sogar. Nicht dass ich behaupten wollte, ich sei tot. Das ist einfach nur eine Metapher: Die Zwiebel, die Kraft. Und ich fühle mich kräftig, unabhängig. Ich bin nicht eine der hysterischen Freundinnen Anna-Maries, die schon ein leerer Akku aus der Fassung bringt. Ich könnte jeden Berg besteigen, wenn mich Berge interessieren würden. Und täglich könnte es ein noch höherer, ein noch schrofferer Berg sein.
Tag 22 ist ein Computerspieltag. 24/7. Die Anrufe ignoriere ich weiterhin stoisch. Immer wieder blinken Gesichter auf, um weggedrückt zu werden. Matze ist zum Spammer mutiert. Stündlich schickt er mir Freundschaftsanfragen. Jan und Kim versuchen manchmal im Minutentakt durchzukommen. Gerne würde ich mit Kim sprechen. Aber was sollte ich zu ihr sagen? Dass sie sich noch gedulden muss, dass ich noch nichts erreicht habe, dass ich noch an einer Welt für uns bastele?
Ich bewege die Mouse, logge mich in den 43312212.54-Server. Ich habe angefangen, bei jedem Einloggen einen Strich an der Wand zu machen. Wie in Gefangenschaft, nur dass jeder Strich nicht einen verlorenen, sondern einen gewonnenen Tag bedeutet. Es ist der zwölfte Strich. Ich warte, der Ping ist schlecht. Wenn der Ping schlecht ist, dauert es ewig, bis das Spiel beginnt. Ich verliere schnell die Geduld und spüre die physische, sich in mir aufstauende Energie. Ich nehme die Mandarinenschalen und werfe sie ins Terrarium. Endlich bin ich eingeloggt, die Lüftung des Computers surrt angestrengt. Der Server scheint voll, es ist spät. Ich schaue mir die Liste der Spieler an und erkenne mehrere an Namen und Spielweise. Ein Spieler ist neu. Oder besser gesagt: eine Spielerin. Als wäre das Szenario ihr natürlicher Lebensraum, bewegt sie sich äußerst effizient und geräuschlos durch die Räume. Es ist, als wäre sie eins mit der Umgebung, mit jedem Schlupfwinkel, jedem noch so kleinen Pixel. In den Teamspeak schreibt sie: Jeder Mensch vervielfacht sich im Spiel um den Faktor, den er sich vorstellen kann. Alles, was sie sagt, trifft zu. Sie ist voll und ganz: unser Girl No.1 .
Ich grüße in die Runde, ich will nicht zu denen gehören, die kommen, mit keinem
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