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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Wille.

7
    Festbeleuchtung. Die an den Enden eines Hirschgeweihs montierten Glühbirnen hüllen die Tischgesellschaft in warmes Licht. In der Mitte der Tafel, über einem Teelicht, ist ein Keramiktopf platziert. In der zähen Käsemasse stecken Fonduegabeln. In großen Körben ist Weißbrot zurechtgeschnitten. Beißende Gerüche im gesamten Wohnbereich: Weißwein, kalter Tabak, käsiges Fett. Tills Eltern sitzen an den Tischenden, Jans Eltern, die Reicherts an den Längsseiten, überall gut gefüllte Gläser.
    »Ach, Till, setz dich doch dazu. Wir wollten gerade anfangen.« Karola sitzt der Flügeltür zugewandt, hinter ihr öffnet das große Fenster den Blick auf das gegenüberliegende Wohnhaus, darüber der Himmel der Abenddämmerung. Till nimmt neben Herrn Reichert Platz, der ihn mit einem Nicken begrüßt.
    Karola will vom Tisch aufstehen, da legt Oskar die Gabel weg, stemmt sich von der Tischplatte auf, sagt: »Ich mach das schon«, und verschwindet in der Küche.
    »Und wie läuft’s?«, fragt Frau Reichert.
    »Passt.« Till zieht sein T-Shirt mit zwei Fingern zur Nase und riecht daran.
    »Wir haben dich lange nicht mehr bei uns gesehen.« Frau Reichert schaut abwechselnd zu Karola und zu ihrem Mann. »Jan meinte, da gab’s Probleme mit der Zulassung für die Prüfungen. Er meint, da habe es Ungerechtigkeiten gegeben.«
    Oskar breitet ein Tischset vor Till aus, stellt einen Teller ab und legt das Besteck so daneben, dass es laut klirrt. »Zur Not überspringt er einfach das Abitur, und wir klagen ihn in das Studienfach, das er am besten findet. Das liegt alles bereits auf Prof. Dr. Peters Tisch. Müssen nur noch das Startsignal geben. So einfach ist das. – Aber jetzt fangen wir erst mal an.« Sie geben sich im Kreis die Hand und wünschen sich im Chor »Guten Appetit«. Dann essen sie.
    »Wir haben unsere Pläne«, nimmt Karola das Gespräch wieder auf. »Bei besonderen Kindern muss man sich keine Sorgen machen, die gehen ihren Weg. Und heutzutage sind ja die geraden Wege die verpönten.«
    Herr Reichert nickt. Till nimmt sich zwei Scheiben Weißbrot und gibt den Korb an Frau Reichert weiter.
    »Zudem ist er krank.« Oskar hat sich ans Kopfende gesetzt.
    »Fangt doch an«, sagt Karola. Alle spießen Weißbrotstückchen auf, sie schenkt Wein nach.
    »Was hat er denn?«, fragt Frau Reichert.
    »T ill hat Asperger«, sagt Oskar.
    Karola legt die Gabel auf den Tellerrand: »Was soll er haben?«
    »Repetitive Verhaltensweisen, Beeinträchtigung der sozialen Interaktion, Tendenz zur Inselbegabung.«
    »Ist das deine Diagnose?«
    »Es ist die Diagnose von Experten.« Oskar sieht zu Herrn Reichert, der ihm verstohlen zuzwinkert.
    »Er lag gerade mal drei Wochen in seinem Zimmer herum. Und da stellst du derartige Diagnosen?«
    »Knapp einen Monat«, korrigiert Oskar.
    Frau Reichert blickt fragend: »Einen Monat? Was hat er denn da die ganze Zeit gemacht?«
    »Simple Erschöpfungszustände.« Karola beugt sich vor. »Das kennen wir doch, nicht wahr, Günther?« Herr Reichert tunkt die Gabel in den Käse, zieht eine ölige Spur bis zu seinem Teller.
    Frau Reichert fährt fort: »Was macht man denn knapp einen Monat in seinem Zimmer als Asperger?«
    »Es gibt keine Asperger und er hat auch nicht derartige Symptome!«, sagt Karola forsch. »Inselbegabung, was soll denn das überhaupt sein? Sind wir reaktionäre Faschisten? Lasst ihn doch seine Sachen machen!«
    Till schneidet eine Essiggurke in gleichmäßige Scheiben.
    »Ich behaupte doch nichts Verwerfliches«, sagt Oskar. »Ich diagnostiziere anhand von Befunden.«
    »Asperger?«
    »Eine Variante des Autismus«, fügt Herr Reichert hinzu.
    Karola schlägt mit der Handfläche auf den Tisch: »Jetzt reicht’s mir! Till ist ein gut aussehender, normaler junger Mann, er ist nicht anders als euer Jan. Wir sollten ihn in so einer schwierigen Situation unterstützen!«
    Der Knall verhallt langsam im Raum. Till tunkt die aufgespießte Gurkenscheibe in den Käse, wickelt die Fäden um die Gabel, schiebt sie in den Mund, kaut. Alle schauen ihn an, als solle er darauf antworten. Im Gang steht die Schwester, in der Hand eine ausladende Einkaufstüte. Sie wirft einen kurzen Blick zu den anderen hinein, dann geht sie mit schnellen Schritten in ihr Zimmer.
    »Ihr habt mich vergessen«, durchbricht Till die Stille und präpariert den nächsten Happen.
    »Schau.« Oskar weist auf Till: »Er ist doch nicht so fit, liebe Karo, wie du meinst. Und nun fühlt er sich vergessen, halb tot

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