Hikikomori
blickte im Zimmer umher, ohne sich merklich an den Veränderungen zu stören, »willst du dich nicht wieder dazusetzen?« Ich konnte sie im grellen Gegenlicht, das aus dem Gang ins Zimmer fiel, kaum sehen und überlegte mir mit zusammengekniffenen Augen eine Antwort, die mir Zeit verschaffen könnte. Als ich etwas sagen wollte, löste sich plötzlich ein Schleimklumpen in meinem Hals und schoss mir mit den ersten Worten in den Mundraum. Ich klang wie verschnupft und heiser, kaum verständlich. Mutter blieb im Türrahmen stehen, schaute besorgt. Ich schluckte den Schleim herunter, hüstelte ein wenig, und sie sagte: »Du bist ja krank!«, kniete sich neben mich und legte den Handrücken auf meine Stirn. »Fieber, eindeutig Fieber«, sagte sie. Ich hustete, sie betrachtete skeptisch die Wäscheleine und auch die Stelle, an der einst die Couch gestanden hatte, und blickte lange auf die von Büchern befreite Wand. Sie richtete mich auf und klopfte mir auf den Rücken. Dann drückte sie mich zurück auf die Matratze, zog mir die Decke bis knapp unters Kinn und verschwand aus dem Zimmer. Von diesem Zeitpunkt an war ich offiziell krankgeschrieben.
Vater brachte mir später eine Kanne Kamillentee ans Krankenbett, sagte nichts, schaute mich bloß bekümmert an, setzte die Kanne neben meinem Kopf ab , verließ das Zimmer und kam mit einem hölzernen Schemel zurück, der als Krankentisch diente. Bevor er zum zweiten Mal ging, kramte er aus der Tasche seine Arnika-Kügelchen hervor, die ich vor seinen Augen lutschen musste.
Als Nächstes besuchte mich Anna-Marie. Beinahe hätte ich sie nicht wiedererkannt, sie schien mir um wenigstens zehn Zentimeter gewachsen, wenn sie so weitermachte, dachte ich, müsste sie bald auf ihren Lieblingsbruder herunterschauen. Dann erst bemerkte ich ihre hohen Schuhe, wunderte mich aber, warum sie diese in der Wohnung fernab aller Verehrer trug. Bei dem Gedanken, glaube ich, musste ich lächeln. Auch sie lächelte, so strahlend hell, dass es in den Augen weh tat. Doch dann kippte wieder ihre Mimik – als hätte ich ihr etwas angetan, schaute sie sich recht teilnahmslos im Zimmer um, begutachtete die Wäscheleine, die Zeichen, die Inschriften am Boden und zuletzt ihren kranken Bruder. »Was ist denn mit dir?«, fragte sie. – »Ich bin krank«, sagte ich. – »Ich meine, was ist das für ein Scheiß hier.« – »Er ist krank«, sagte Mutter, die wieder im Türrahmen stand, den Grießbrei in der Hand.
Heute ist Tag 16. Seit drei Tagen löffele ich Grießbrei im Uhrzeigersinn. Neben Brokkoli ist das mein absolutes Lieblingsgericht. Schicht für Schicht, bis mich Goofy vom Tellerboden her anlächelt. Seitdem ich krank bin, gibt es Grießbrei zum Frühstück und auch sonst alles, was ich möchte, heiße Schokolade zum Beispiel, weil Mutter meine Zweifel am Nutzen von Tee kennt. Vater möchte natürlich, dass ich seine Teemischungen trinke. Ich sage: Ich lutsche deine Pillen, wenn du mich mit dem Tee in Ruhe lässt. Damit ist er einverstanden, die Sporttasche geschultert, zum Golf entlassen.
Zum Mittagessen gibt es weitere Lieblingsgerichte, Mutter hat dafür ihren Arbeitsplan umgestellt. Ihr SchauRaum für ästhetische, aber gänzlich unpraktische Möbelstücke liegt fußläufig von hier. Wenn ich sie kommen höre, lege ich mich schnell unter die Decke und hole den Fokus Chemie unter dem Kopfkissen hervor, das einzige Buch, das überlebt hat. Ich lese konzentriert und kräusele demonstrativ die Stirn. Mutter kommt kurz herein, lüftet durch, schiebt einen einsamen Nachtschrank in die Ecke, fragt nach meinem Zustand. »Ich kann wieder rauchen«, sage ich. Sie überlegt eine Weile. Mutter hofft dann, ich würde es ihr vormachen, mich mit ihr zusammen ans Fenster stellen. Den Gefallen tue ich ihr aber nicht.
Gestern, vorgestern und heute habe ich mich doch erbarmt und eine Zigarette mit Mutter geraucht. Ein Geben und Nehmen. Zu Vater pflege ich eine andere Beziehung. Er diagnostiziert und ich widerspreche. Er sagt: »todkrank«, und meint mein Bewegungspensum. – »Eine kümmerliche Einschätzung«, erwidere ich, weil er sonst originellere Einfälle hat. – »Wie ein angefahrenes Reh«, ergänzt er. Ich sage: »Die Ruhe vor dem Sturm.« – Er sagt: »Das Herz des Rehs wird zuerst ruhig schlagen, so wenig Kraftreserven wie möglich verbrauchen. Im entscheidenden Moment wird es aufbrausen, um noch die letzten Sauerstoffbläschen ins benebelte Gehirn zu pumpen. Rasante Taktzahl, bis der letzte
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