Hikikomori
spielt das halbe Leben unter Wäscheleinen. Ich habe also ein kleines Italien hier.
Den Geruch nasser Wäsche mag ich sehr. In ihm schlummert die Erinnerung, wie Anna-Marie und ich früher stundenlang um den Wäscheständer herum kauerten, den Hemden und Hosen, Socken und Handtüchern beim Austropfen zusahen und uns vorstellten, wie schön es wäre, wenn man sich zwar waschen oder im Meer baden müsste, aber man dann von selbst trocknete, ohne lästig abgerubbelt zu werden. Man würde einfach in der Sonne mit einem Capri-Eis darauf warten. Wenn das Eis heruntergeschleckt wäre, könnten auch T-Shirt und Hose wieder angezogen werden.
Seit der Party gehen draußen bis auf Ausnahmen an wenigen Tagen spätwinterliche Graustufen ineinander über. Für mich ein Anlass mehr, im Zimmer zu bleiben. Und anscheinend auch für Menschen wie Karl, der seine Zigarettenration Tag für Tag erhöht, sich am Haaransatz kratzt, meinen Blick meidet, wenn ich auch am Fenster stehe. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Verwundert hat er gewirkt, als dieser drahtige Tegetmeyer von gegenüber sich plötzlich mit einem Bohrer in der Hand auf den Stuhl stellte, Löcher in die Wand bohrte, der Wand Dübel, später Schrauben mit Haken verpasste und die Leine aufspannte. Was wird dieser Tegetmeyer-Junge mit dem Terrarium anfangen, wird sich Karl gefragt haben. Der Tegetmeyer-Junge wusste darauf keine Antwort, nahm eines der Bücher aus dem letzten verbliebenen Regal, blätterte auf der Suche nach einer Antwort darin herum. Ist er so minderbemittelt, fragte sich Karl, dass er meint, Lesen könne ihm weiterhelfen? Karl beobachtete, wie der Tegetmeyer-Junge das Buch zurückstellte, in einem anderen las, auch das zurückstellte, und wieder und wieder zu einem neuen Buch griff, bis er alle durchhatte. Da lachte Karl. Da packte der Tegetmeyer-Junge das Regal an den Hörnern, zerrte es zu Boden und riss ihm die Eingeweide aus dem Leib. Da lachte Karl nicht mehr. Der Tegetmeyer-Junge stapelte die Bücher-Eingeweide auf einen Haufen und schleuderte das Regalgerippe in den Flur. Zurück im Zimmer nahm er den Stift und schrieb Bücher, Bücher , Bücher an die Wand. Da klatschte Karl anerkennend.
13. Tag. Seit heute bin ich offiziell krank. Das war nicht mein Einfall. Das kam von ganz alleine.
Ein unspektakulärer Sonntagmorgen, draußen nieselte es in sachten Schlägen auf den Fenstersims, in der Wohnung hörte ich, wie die anderen den Tag begannen. Ich lag mit geschlossenen Augen da und rief mir das letzte Mal in Erinnerung, das Kim und ich nebeneinanderlagen. Es muss gewesen sein, als ich noch zur Schule ging. Sie lag hinter mir und umklammerte mich so fest, dass ich kaum mehr Luft bekam. Ich spürte ihre Nippel anschwellen, sie küsste meinen Nacken. Wie in einem Film, der aus ewig langen Aufnahmen noch der kleinsten Details besteht, hatten wir uns in unseren Anfängen langsam an den anderen herangetastet. Die ersten Tage spielten wir nur mit den Fingerkuppen, drückten die Handballen gegeneinander, zogen Lebens-, Schicksals- und Herzlinie nach. So ergründeten wir nach und nach jeden Winkel des anderen Körpers. Während sie sich mit meinem Nacken vertraut machte, schlief ich ein, und als ich die Augen wieder öffnete, da war es Morgen, da sah ich sie vom Bett aus in ihrem alten Sessel sitzen, wie sie die Füße an den Körper herangezogen hatte, die Muskeln angespannt. Wie sie auf winzige Pappkartons zeichnete, ein feiner Strich auch zwischen ihren Beinen, die Hüfte schmal und weich, die Haare in alle Richtungen abstehend. Als sie meine geöffneten Augen sah, drückte sie den Kohlestift noch eifriger und konzentrierter aufs Papier. Bis ich aufstand und sie an der Hand zurück ins Bett führte. Und beim Aufstehen nicht mehr vertuschen konnte, was ich wollte: sie zurechtlegen, in sie eindringen. Von Tag zu Tag, so wie der Wasserpegel in einem Gefäß ansteigt, das tröpfchenweise gefüllt wird, wird mein Wunsch größer, wieder mit ihr zu sein, für wenige Minuten zu vergessen, wie weit ich sie von mir gestoßen habe. Irgendwann läuft auch dieses Gefäß über.
Diese Bilder zogen durch meinen Kopf, als sich die Tür schlagartig öffnete. Ich hatte nicht abgeschlossen, konnte gerade noch die Decke über den Bauch ziehen und blinzelte zur Tür. Natürlich war es Mutter. Sie sagte etwas wie: »Frühstück ist fertig!«, obwohl sie genau wusste, dass ich an einer gemeinsamen Mahlzeit keinerlei Interesse hatte. »Komm, Junge«, sagte sie und
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