Hikikomori
reden, ihre Runden spielen und spurlos wieder verschwinden. Das Tapfere Sniperlein und Girl No.1 belauern die Eingänge zum Innenhof. Sie spielen auf der Naziseite. Ich warte fast zwei Stunden im Beobachter-Modus und beäuge sie abwechselnd aus der Vogelperspektive.
Sie sind mit Abstand die Besten, nicht unbedingt weil sie die meisten Spieler »ernten«, die meisten Kills verzeichnen, sondern weil sie niemals gleich spielen, zumindest erkenne ich noch kein Muster. Sie haben, anders als die anderen, keine Lieblingsecken, in denen sie immer ihre Zelte aufschlagen, um dem Gegner aufzulauern und ihn aus dem Hinterhalt umzuballern. Sie interessiert an dem Spiel etwas anderes als die simple Dominanz über den Gegner. Ihr Ziel scheint vielmehr die völlige Beherrschung des Spiels selbst, das heißt, aus jeder Position heraus bestmöglich reagieren zu können, jeden Vorteil eines jeden Verstecks zu durchschauen. Sie sind sogar in der Lage, ihre Gewehre durch fehlprogrammierte Wände oder Kisten zu stecken und zu schießen, ohne sich selbst der Gefahr auszusetzen, getroffen zu werden. Sie scheinen diese Welten sogar besser als die Programmierer zu kennen, und dem kann niemand etwas entgegensetzen. Das macht sie zu Helden.
Ich klicke mich dazu, möchte an ihrer Seite kämpfen. Wir sind zu fünft, die Alliierten zu sechst. Apex, geh rüber , schreibt Das Tapfere Sniperlein . Sie führen hoch, das sehe ich. Sie wollen, dass ich gegen sie spiele, sie verlangen nach mehr Gegnern, um ihre Überlegenheit auszugleichen. Come on, schreibt er, change Teams!
Gut, ich streife mir die olivgrüne Alliiertenuniform über und spiele bei den Amis, ungern. Ich werde in die Alliierten-Basis teleportiert, die anders als der betonierte Innenhof der Nazis grün bewaldet ist. Hi Team , schreibe ich und bekomme keine Reaktion. Ich schultere die Waffe, um mich schneller bewegen zu können, und laufe von der Basis bis in das Innere des Gebäudekomplexes. Mein Ziel ist es, die Rakete in die Luft zu jagen. Das Tapfere Sniperlein und Girl No.1 werden alles dafür tun, dass mir das nicht gelingt. Zuerst muss ich jedoch unbeschadet das Gebäude durchqueren: ein überdimensionaler Bunker mit etlichen Gängen, größeren und kleineren Lagerhallen, einer Kommandozentrale, vielen Treppen und Abertausenden versteckt liegenden Winkeln. Nach wenigen Metern habe ich mich verlaufen. Ich irre weiter, nicht einmal mehr in der Hoffnung, die richtige Tür zum Innenhof und damit die Rakete zu finden, sondern lediglich, um irgendwie aus diesem Labyrinth herauszugelangen. Ich öffne Tür um Tür, durchquere eine Art Bücherei, meine Hände schwitzen, und schon sinke ich zu Boden, von einem Schuss getroffen, so abrupt, dass ich im ersten Moment nicht einmal verstehe, was passiert ist. Auf dem Bildschirm erscheint **geerntet by Girl No.1** . – Nice Shot, tippe ich ins Textfeld und begebe mich wieder in den Beobachter-Modus, weil ich nicht erwarte, von dem kümmerlichen Alliiertenteam gerettet zu werden. Ich beobachte Das Tapfere Sniperlein , der elegant über ein Geländer balanciert, weil er dadurch schneller vorankommt. Ich schäle eine weitere Mandarine, werfe einen Teil der Schale ins Terrarium, nutze die übrige als Aschenbecher.
Der Computer simuliert ein Klingelgeräusch. Ich versuche konzentriert zu bleiben, betrachte aber kurz Kims Profilbild, das aus der Menüleiste in mein Spielfeld ploppt, bevor ich sie wegdrücke. Im nächsten Spiel schlage ich mich besser, verlangsame die Aktionen pro Minute, taste mich vorsichtiger durchs Szenario. Dann stehe ich Girl No.1 gegenüber, ich werfe mich hinter ein Ölfass, sie tänzelt zwischen einer Gruppe von Hubkränen hindurch. Ein paar ihrer Schüsse kann ich ausweichen und einige in ihre Richtung abfeuern: Streifschuss. Zu mehr Ertrag bin ich noch nicht fähig. Meine Bewegungen sind zu ungelenk. Nun versucht Kim es auf dem Handy, erscheint ihr Bild auf dem Display meines Smartphones und nimmt mir die nötige Konzentration. Wie ein überreifer Apfel werde ich von Girl No.1 geerntet.
Ich logge mich aus mit dem festen Vorsatz, besser zu werden. Zum Glück habe ich keine Mailbox eingerichtet. Das Smartphone vibriert und klingelt ein weiteres Mal: Jan Reichert , steht da, dazu seine gut gelaunte Mimik, ich werde das Ding bald aus dem Fenster werfen. Es ist doch spät, warum schläft denn keiner? Sind morgen nicht Prüfungen? Sollte Jan nicht von Baldriantropfen betäubt im Bett liegen, um fit für den großen Tag zu sein?
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