Hikikomori
ich mir Tretters Croissants aus der Küche. Schoko- oder Nougatcreme. Damit decke ich mich für den Tag ein. Ich frühstücke zwei Croissants nacheinander und schlafe gleich weiter.
Seit sieben Tagen bin ich nicht mehr aus dem Haus gegangen und halte mich an meine feste Regel, das Zimmer lediglich einmal am Tag zu verlassen. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche, um meine bislang nur geringen Kraftreserven nicht unnötig zu verbrauchen. Während einer einzigen Tour besorge ich Essen, wasche mich und gehe auf die Toilette. Es fehlt mir noch an einer Methode, diese Versorgungsausflüge abzustellen. Im Grunde bräuchte ich einen Zulieferer, der alle paar Tage an meinem Zimmer andockt und die Lebensenergiespeicher auffüllt. Und doch: Ich bin stolz, seit sieben Tagen niemanden in Anspruch genommen zu haben.
Am 8. und 9. Tag habe ich nichts anderes gemacht, als ausgestreckt auf dem Boden zu liegen und die Sonne über meinen Körper wandern zu lassen. Sie erscheint links in der Straßenschlucht und fällt gespalten durch die Erkerfenster. So langsam, dass das ungeübte Auge die einzelnen Schritte der Bewegung nie wahrnehmen könnte, wandert das Strahlenraster über den Boden, trifft irgendwann auf den Rand der Matratze. Mein Indikator für den Mittagspausenanfang – Banker in dunklen Mänteln und steifen Krägen, Verwaltungsbeamte in speckigen Lederjacken und zu kleinen Mützen formieren eine Schlange vor dem Döner gegenüber, bestellen ohne Zwiebel und mit Kräutersoße, Schüler in normiert individuellen Outfits und Eroberungsgestik ordern Tretters belegte Baguettes und Pizzaschnitten. Wenig später schon ruht die Sonne genau über dem Karl-Haus, brechen ihre Strahlen durch den Qualm meiner unzähligen Entspannungszigaretten, bis sie schließlich auf der anderen Seite hinunterkippt und den nutzlosen Tagesrest einläutet.
Ich begnüge mich zu Mittag mit den Croissantresten. Während ich verdaue und weiterdöse, wandert die Sonne über meine geschlossenen Augen und erzeugt eine orangefarbene, mit knisternden Punkten übersäte Fläche. Jetzt ist es Zeit, dass sie langsam nach Hause kommen. Zuerst Mutter – ich höre sie den Mantel über den Kleiderständer werfen, die Schuhe gegen die Pantoffeln tauschen, höre, wie sie die Flügeltüren ineinander verhakt. Das Sofa im Wohnzimmer ist ihr Rückzugsort, bevor Vater nach Hause kommt, bevor – wie beinahe jeden zweiten Tag – Gäste kommen, bevor Anna-Marie ihre Freundinnen mitbringt, die wiederum ihre Freundinnen mitbringen. Innerhalb eines Wimpernschlags ist Trubel in der Wohnung, der mich sofort belebt und von der Matratze aufschrecken lässt. Ich drehe die Musik laut auf und setze mich an den Schreibtisch. Ein kindischer Krach. Ich kann das nicht erklären. Tagsüber, wenn keiner da ist, bin ich so stumm wie die Wände um mich herum, die Straßengeräusche plätschern träge an die Außenwand meiner Box. Ich bewege mich nicht, und wenn ich mich bewege, wenn ich ins Bad schleiche, wie heute, mich und das verwahrloste Terrarium wasche, sogar da gehe ich auf Zehenspitzen. Aber lässt Anna-Marie Musik laufen, werden Vater und Mutter lauter oder wuseln Gäste zwischen den Zimmern hin und her, signalisiere ich entgegen all meinen Vorsätzen, dass es mich auch noch gibt.
Mutter hat kurz geklopft und gesagt, es gebe Abendessen. Wenn ich mein Ohr an das Türblatt presse, kann ich sie atmen hören. Ich stehe dort eine Weile, wie auch die letzten Tage schon. Es ist ein komisches Gefühl, zu wissen, dass sie ohne mich um den Tisch herum sitzen, mein Platz erst einmal leer bleiben wird. Auf die Markierung Couch habe ich das Terrarium gestellt. Das Wasser ist abgeperlt und hat eine beachtliche Lache gebildet.
Tag 10 und 11 über habe ich mir überlegt, was ich mit der frischen Wäsche anstellen könnte. Denn wer nicht am Esstisch sitzt, habe ich beschlossen, braucht auch nicht den Familien-Wäscheständer in Anspruch zu nehmen. Also warte ich im Wirtschaftsraum den Schleudergang ab, nehme dann die Wäsche aus der Trommel und trage sie in mein Zimmer. Ich schüttele die einzelnen Stücke aus, wie es Mutter macht, um Falten zu vermeiden, und hänge sie behutsam an die Leine. Ich habe Haken in zwei gegenüberliegende Ecken meines Zimmers geschlagen und die Leine daran befestigt. Über der Matratze hängt sie am bauchigsten durch, auch dann, wenn sie nicht behängt ist. In anderen Ländern ist es ganz normal, eine Wäscheleine in der Wohnung gespannt zu haben. In Italien
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