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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Abermals eingeloggt. hey, Apex, schreibt Das Tapfere Sniperlein, komm zu uns, wir haben dich beobachtet, du hast skill, brauchst aber ein gutes training, sonst kommste nicht weiter. willst du den silent shot lernen? damit wirst du quasi unsichtbar.
    Ich bin die fleischgewordene Langeweile. In den letzten Tagen habe ich es fertiggebracht, absolut nichts zu tun. Nicht mal Medal of Honor habe ich gespielt, obwohl sie mich in ihren Kreis aufgenommen haben. Gäbe es Frau König nicht, säße ich jetzt vor Ebenen im Raum, den Taschenrechner zur Linken, den Spickzettel im Mäppchen. Zur Rechten Jans golden behaarter Arm, vor mir Reihen angespannter Köpfe. Aber es gibt sie. Lässt sich daran etwas ändern? Und wollte ich daran etwas ändern? Frau König hatte etwas dagegen, dass dieser nette Junge, den sie Till nennen, zugelassen wird. Sie hat im muffigen Lehrerzimmer die Story verbreitet, er sei eine Gefahr. Sie redet von Menschen, als wären es Flipperautomaten. Als müsse man nur die Kugel mit den Flipper-Hebeln – benutze deinen Intellekt, Till! – im Spiel halten. So sei das Leben, sagt sie, man brauche Punkte, schlicht und ergreifend für all die Wünsche, die man habe. Doch der nette Junge scheine gar keine zu haben, sagt sie; man müsse ihn bloß leicht berühren, ihm falsch in der Sonne stehen, und er tilt aus. Das verbreitet sie so! Mein Name, mein Schicksal. Der Till tilt wieder! Sein Intellekt setzt aus, die Flipper-Hebel außer Kraft, die Kugel versackt im Loch des Vergessens. Sehr originell! Als wäre ich wirklich ein blöder Automat, den man bloß ungelenk anheben oder berühren müsste und schon rastete ich aus. Till Kill . Wegen dieser Prognose habe ich mich jetzt zu langweilen, während die anderen ihre Reife prüfen lassen. Aber es geht mir nicht um geladene Teilchen in homogenen Feldern. Es geht um Leben und Tod.
    Was Neues hier: Vögel. Seit knapp vier Wochen musste ich nicht mehr auf die Straße. Ich bin gut drauf. Die Zugvögel verbreiten Umbruchsstimmung. Vielleicht liegt es daran. Auch Karl scheint es wieder besser zu gehen, hinter der Milchglasscheibe seines Badezimmers, von dem einen aufs andere Bein hüpfend. Frühlingsputz: Ich stelle mir vor, wie er Country Road zwar schief, aber mit voller Inbrunst schmettert, wie er sich dabei die wenigen Haare zurechtschiebt, den mit Stoppeln übersäten Hals reibt, Kinn und Wangen mit lauwarmem Wasser benetzt, das Rasiermesser von unten nach oben führt, wie er sich den Schnurrbart trimmt, die Koteletten stutzt, die Nasenhaare kürzt, die Ohren mit Wattestäbchen putzt. Wie er dann das Radio lauter aufdreht, mit dem Kopf zur aufbrausenden Melodie nickt.
    Wasserströme rieseln seinen Rücken hinunter, während er jede Körperstelle einschäumt. Er beginnt mit dem Hinterkopf, zieht weiter über die Ohren ins Gesicht, wandert über den Nacken Richtung Schulterblätter. Da verschränken sich seine Arme akrobatisch. Von den Haaren an der Brust folgt er denen am Bauch zu der Schambehaarung. Die Beine seift er besonders lang ein. Er schrubbt um sein Leben, als könnte er die alte Haut einfach abrubbeln und eine neue darunter zum Vorschein bringen. Als könnte das sein Leben verändern. Doch er vergisst, dass er sich auch innerlich schrubben und erneuern muss.
    Er öffnet das vom Wasserdampf beschlagene Fenster, reibt Haare und Haut mit dem Handtuch trocken, den Bauch, die Achseln, umständlich den Rücken. Er schaut hinaus, hinauf in den Himmel, als hinge sein Tag vom guten Wetter ab. Fände ich einen Weg, an Marlboro Gold zu gelangen, rauchte ich liebend gerne mit ihm seine Marke. So trennt uns nicht nur die Distanz, sondern auch die Domestizierung.
    Es wird die Woche des Frühaufstehens werden. Ich bin da auf Augenhöhe mit all den anderen Frühaufstehern. Ich werde die neue Ruhe zum Meditieren nutzen. Oder zum Basteln. Ich verspüre tonnenweise Energie. Ich fühle mich prächtig!
    Tag 26. Die Verpflegung ist abgebrochen. Das Croissant wurde nicht geliefert, kein Grießbrei zum Mittagessen. Ich huste hohl und blechern, ein Echo hallt durchs Zimmer. Ich wage mich nicht hinaus, noch bin ich zu krank, um so früh auf den Beinen sein zu können. Sie würden mich sofort als genesen einstufen und mich in ein Frühlings-Feriencamp schicken. Also liege ich da und langweile mich mit meinem monotonen Herzschlag. Haben sie etwa ihren todkranken Sohn vergessen? Abends duftet es nach Käsefondue und Kirschwasser. Das Hungergefühl ist stärker als mein

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