Hilfe, die Googles kommen!
Als die Spannung fast unerträglich wurde, kam sie plötzlich an – meine erste E-Mail. Von einem Kumpel. Betreff: TEST . Inhalt: keiner. Nur ein weißes Programmfenster. Aber egal, wie schlicht sich mir die elektronische Post präsentierte – ich war begeistert.
Vor Euphorie zitternd nahm ich den Telefonhörer in die Hand und rief meinen Kumpel an: »Alter, schreib mir noch mal. Das ist soooo geil!« Fortan kehrte ich aus der Uni nach Hause zurück und rannte schnurstracks an den Rechner, um zu sehen, ob ich neue E-Mails bekommen hatte. War das nicht der Fall, standen mir an sensiblen Tagen schon mal die Tränen der Enttäuschung in den Augen. 155
Das sollte sich allerdings innerhalb weniger Monate dramatisch ändern, als mich nach und nach das genaue Gegenteil zu Tränen rührte: Ein immer erbarmungsloserer E-Mail-Tsunami überschwemmte nun tagtäglich mein Postfach. Nicht, dass ich ein überaus populärer Korrespondenzpartner gewesen wäre. Nein! Zwischen Newslettern, Spam-E-Mails und Abwesenheitsnachrichten musste man sich die relevante Post ziemlich mühsam zusammensuchen.
Damals wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass die Menschheit für diese Art der Informationsübermittlung eigent lich noch nicht bereit ist. Gut, die Möglichkeiten waren nun einmal da und man musste sich damit arrangieren, aber hinsichtlich seiner kognitiven Fähigkeiten befindet sich der Mensch auch heute noch auf dem Niveau des Mittelalters. Da war die Nachrichtenübermittlung noch absolut überschaubar. Briefe wurden von Boten geschickt, die diese Schriftstücke zwischen den Konversationspartnern hin- und hertransferierten. Ein simples System, das den menschlichen Geist nicht über Gebühr strapazierte. Manchmal wurde ein Bote auch auf seinem Weg im Wald von einem Räuber erschlagen. Damit waren Räuber im Prinzip der Spam-Filter des Mittelalters. Und wenn der Bote eine schlechte Nachricht hatte, wurde er zuweilen sogar vom Empfänger erschlagen. Das kann man ja heute nicht mehr machen. Stellen Sie sich vor, wie gefährlich der Beruf des Briefträgers wäre, wenn ihm jeder nach der Zustellung einer Mahnung gerne die Birne wegschießen würde. 156
Auch bei E-Mails gibt es leider noch keinen Filter für schlechte Nachrichten – im Gegenteil. Mein aktueller Spam-Filter meldet mir per Pop-up-Nachricht bei jedem Mailempfang »Sie haben 17 gute Nachrichten«, was natürlich nur auf die Tatsache bezogen ist, dass es sich nicht um unbrauchbaren Spam handelt. Bei diesen 17 »guten« Nachrichten könnte also durchaus eine Benachrichtigung meines Hausarztes dabei sein – Betreff: »Sie haben nur noch zwei Wochen zu leben.«
Jawohl, auch Software kann zynisch sein. Doch wer kann es dem Spam-Filter verdenken? Er hat einen dreckigen Job, aber irgendwer muss ihn ja machen.
Kannibalismus per Mail
Es ist wie in einer Ehe: Man darf sich von den Widrigkeiten des Alltags nicht auseinanderbringen lassen und muss stets mit Geduld und Spucke dafür arbeiten, dass die Flamme der Liebe nicht erlischt. »In guten wie in schlechten Zeiten« gilt daher auch für die E-Mail.
Und doch: Wie oft gerät man in Versuchung, die gewohnten Hilfsmittel für modernere, vermeintlich bessere, hinter sich zu lassen. Auch ich werde immer wieder vom Reiz des Neuen verführt und gehe dann mit schlampigen Chatprogrammen und blutjungen Instant-Messaging-Services fremd. Wenn die Hitze des Moments abgekühlt ist, wird mir aber jedes Mal klar, dass es sich nur um Strohfeuer kurzfristiger Erregung ohne Chance auf eine gemeinsame Zukunft handelt. Mit schlechtem Gewissen und gesenktem Haupt kehre ich nach dem Sündenfall stets wieder in mein E-Mail-Programm zurück und bitte inständig um Verzeihung.
Man sollte nun meinen, dass die langjährige Beziehung, die wir alle mit der E-Mail führen, für ein gegenseitiges Verständnis gesorgt hat. Das Gegenteil ist der Fall. Und das, obwohl seit Mitte der 90er Jahre die E-Mail kein Medium mehr für eine kleine, verschworene Gemeinschaft von Nerds mit dicken Brillen und Trichterbrust ist, sondern ein echtes Massenphänomen. Wer heutzutage keine E-Mail-Adresse besitzt, liegt entweder seit zwei Jahrzehnten im Wachkoma oder wurde von Wölfen aufgezogen. 157 Selbst frischgeborene Babys und Haustiere haben mittlerweile Mail-Adressen und sind somit global und rund um die Uhr zu erreichen. Ob es sinnvoll ist, wenn sich Hasso und Bello über einen Microsoft Exchange Server zum Gassigehen verabreden oder der kleine Tristan schon aus dem Uterus
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