Himmel uber Langani
runter, Camilla. Ich bin hier und passe auf dich auf. Ich bringe dich jetzt zu Bett, denn es ist schon sehr spät, Kleines. Also komm jetzt bitte.«
Niemand rührte sich. Camilla kauerte, die Arme wie Flügel ausgebreitet, auf dem Fensterbrett und betrachtete die Kuppeln, Kirchtürme und Schornsteine der Stadt, ohne den Straßenverkehr unter sich oder das leise Flehen ihrer Mutter wahrzunehmen.
»Hast du auch dieses Zeug geschluckt?«, wandte sich Marina in hasserfülltem Ton an Roberto. Als er den Kopf schüttelte, packte sie ihn am Arm. »Raus«, zischte sie. »Verschwinde und lass meine Tochter in Zukunft in Ruhe! Wir werden kein Wort über diesen Zwischenfall verlieren, vor allem nicht gegenüber deinen bedauernswerten Eltern.«
Eine Ewigkeit verging, bis Camilla endlich die ausgestreckte Hand ihrer Mutter packte. Marina umfasste ihre Finger und redete weiter fröhlich und beschwichtigend auf ihre Tochter ein, bis diese endlich die Beine übers Fensterbrett schwang und sich zu Bett bringen ließ.
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war sie völlig erschöpft. Sie öffnete die Verbindungstür und stellte fest, dass Marina noch schlief. Camilla überlegte, ob sie sich anziehen und einen Spaziergang machen sollte. Oder war es besser, dem bleischweren Gefühl in ihren Gliedern nachzugeben und sich wieder ins Bett zu legen? Zunächst einmal würde sie zuerst beim Zimmerservice ein Frühstück bestellen. Doch als sie zum Telefon greifen wollte, bemerkte sie das liebevoll eingewickelte Päckchen auf dem Nachttisch. Ein Brief hing daran, den sie einige Male las, bevor sie ihn weglegte.
Meine liebste Camilla,
das hier hat dein Vater mir am Tag deiner Geburt geschenkt, weil er uns beide so liebte und wir so glücklich waren. Jetzt möchten wir, dass du es bekommst, denn wir lieben dich noch immer über alles. Du bist das Wichtigste in unserem Leben. Wir hoffen, dass du es tragen und an uns denken wirst, in dem wundervollen Leben, das noch vor dir liegt.
Ich liebe dich, mein Kind, meine wundervolle und schöne Tochter, an deinem einundzwanzigsten Geburtstag und auch an allen weiteren Tagen.
M.
Camilla schnürte die Schleife auf und entfernte das Geschenkpapier. Sie erblickte eine flache grüne Lederschatulle mit goldenen Verzierungen und den Initialen ihrer Mutter. Darin lag eine Perlenkette auf einem Samtbett. Das kunstvoll mehrreihige Kollier war aus Korallen und Perlen gearbeitet, besaß ein Mittelstück aus kleinen emaillierten Blüten und Blättern und wurde von einem Netz aus dünnen Goldkettchen zusammengehalten. Camilla begriff, dass es aus der Renaissance stammte, doch sie konnte sich nicht erinnern, dass ihre Mutter es jemals getragen hätte. Mit zitternden Fingern nahm sie die Kette aus der Schatulle und ging zum Spiegel, wo sie sich das Schmuckstück umlegte. Glitzernd hob es sich von der hellen Haut ihres Halses ab, als sie es durch einen Tränenschleier betrachtete. Sie legte sich wieder ins Bett und zog die Decke hoch. Wenige Minuten später war sie eingeschlafen. Ihre Hand lag auf der Kette, und ein Ansturm von Kindheitserinnerungen erfüllte ihre Träume.
Kapitel 21
London, Dezember 1965
I ch verstehe nicht, warum du so viel Zeit mit diesen grässlichen und vulgären Menschen verbringst, Camilla. Schließlich gibt es auch Models und sogar Fotografen, die Kultur haben und aus anständigen Familien kommen. Kannst du nicht mit solchen Leuten verkehren?« Marinas Stimme am Telefon klang gereizt. »Auf den Fotos von John French warst du so glamourös und elegant.«
»Ich kann nicht immer gleich aussehen, Mutter. Die Kunden wollen verschiedene Stilrichtungen, um ihre Kollektionen optimal zur Geltung bringen.«
»Aber David Bailey und seine Clique sind so schmuddlig, mein Kind. Es ist ja in Ordnung, dass du mit ihnen zusammenarbeitest, aber in deiner Freizeit musst du dich doch wirklich nicht mit Menschen umgeben, die sich offensichtlich nicht zu benehmen wissen. Außerdem begreife ich nicht, warum du dir Sachen wie diesen scheußlichen Mantel von Astrahkhan und die billige Hose kaufen musstest, die du auf dem Foto in der Daily Mail trägst. Du hast so viele schöne Kleider, die …«
»Heutzutage kann man anziehen, was man will. Das nennt sich Freiheit, so wie um die Jahrhundertwende, als die Frauen ihre Korsetts weggeworfen haben.« Camilla musste grinsen. So krank Marina auch sein mochte, ihre Ansichten würden sich wohl niemals ändern.
»Ich habe heute Morgen wieder deinen Namen in der Zeitung
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