Himmel uber Langani
gelesen.« Marinas Stimme klang jetzt besorgt. »Anscheinend bist du am Samstag bis vier Uhr morgens im Ad Lib gewesen. Man sagt, es wimmelt dort von Leuten, die Rauschgift nehmen.«
»Ich nehme kein Rauschgift, Mutter. Ab und zu rauche ich vielleicht mal einen Joint, was mir bestimmt nicht schadet. Ich habe meine Lektion in Rom gelernt, da kannst du sicher sein.«
»Ich glaube, dass du nicht vorsichtig genug bist, mein Kind. Du verkehrst mit so vielen zwielichtigen Gestalten. Auch wenn du ›in‹ sein möchtest, wie das heute so schön heißt, musst du trotzdem an deinen Ruf und an deine Zukunft denken.«
»Heutzutage kümmert sich niemand mehr darum, was für einen Ruf man hat«, widersprach Camilla. »Die Zeiten haben sich geändert, Mutter. Dieses ganze herablassende, distanzierte Oberschichtgetue ist völlig überholt. Der Landadel steht Schlange, um ins Ad Lib eingelassen und mit Bailey gesehen zu werden. Wie fühlst du dich denn heute?«
»Wie eine Hutzelhexe mit Rheuma. Jetzt fehlen mir nur noch ein Spazierstock und Wollstrümpfe, die an den Beinen Falten werfen.« Marinas Lachen klang dünn und gepresst. »Um vier habe ich einen Termin beim Medizinmann.«
Camilla drehte sich im Bett um und warf einen Blick auf die Uhr. Kurz vor elf. Um zwölf musste sie im Studio sein. Dabei sah sie zum Fürchten aus und hatte einen grässlichen Kater nach einer Party, auf der eine neue Schmuckkollektion präsentiert worden war. Sie war wieder einmal sehr spät ins Bett gekommen.
»In einer halben Stunde muss ich zur Arbeit. Wenn ich rechtzeitig im Studio fertig bin, hole ich dich in der Harley Street ab und höre mir an, was Dr. Ward zu sagen hat.«
»Nein, das brauchst du nicht.«
»Trotzdem versuche ich, da zu sein.«
»Ich gehe heute Nachmittag nicht zu Dr. Ward.« Marina zögerte. »Sondern lasse einen neuen Bluttest machen.«
»Wir könnten uns ja anschließend einen Film anschauen«, schlug Camilla vor.
»Ich glaube nicht, Liebes. Ich bin ein bisschen müde und denke, dass mir der Arztbesuch für heute als Ausflug genügt. Möchtest du zum Abendessen zu mir zu kommen? Für diese Woche hast du doch sicher genug von Nachtclubs. Meine Freunde, die Willoughbys, haben dich am Dienstag im Annabel’s gesehen. Du kannst dir nicht jede Nacht um die Ohren schlagen, Camilla. Ich dachte, Edward hätte dich gebeten, vorsichtig zu sein. Allein schon der Rauch ist Gift für deinen Teint.«
»Meinem Teint geht es prima, wenn man davon absieht, dass ich einen knallroten Strich quer über der Stirn habe. Dann also bis zum Abendessen.«
Camilla legte auf. Offenbar war George verreist. Marina hätte sie nie gemeinsam zum Essen eingeladen. Allerdings führte dieses Arrangement zu Missstimmung und löste ein schleichendes Unbehagen in Camilla aus. Manchmal brach ihre Mutter in Tränen aus, versuchte sie mit ihrer Krankheit unter Druck zu setzen und flehte sie an, sich alles noch einmal zu überlegen. Doch immer wenn Camilla an George dachte, sah sie ihn vor sich, wie er sich zu dem nackten jungen Mann auf dem Bett hinunterbeugte. Am liebsten hätte sie ihre Wut herausgeschrien, um das abstoßende Bild endgültig zu vertreiben. Zwar bemühte sie sich, eine rationale Erklärung für ihre Empörung zu finden, doch wenn ihr wieder dieses ganze Gespinst aus Lügen und Ehebruch – und als Draufgabe die Homosexualität ihres Vaters – vor Augen stand, schaffte sie es einfach nicht, sich vernünftig mit dem Problem auseinander zu setzen. Bei anderen schwulen Männern empfand Camilla weder Ekel noch Widerwillen, und sie hatte sich bis jetzt immer für eine aufgeschlossene, moderne Frau ohne Vorurteile gehalten. Doch wenn es um ihren eigenen Vater ging, konnte sie nicht über ihren Schatten springen. Sie brachte es einfach nicht über sich, ihm gegenüberzutreten. Da mochte Marina noch so viel weinen und flehen, Camilla wandte sich stets hilflos und niedergeschlagen ab.
»Wir müssen darüber reden«, hatte Marina beharrt. »Warum können wir die Sache nicht erörtern und sie dann auf sich beruhen lassen? Ich weiß ja nicht, wo oder auf welche Weise du davon erfahren hast. Wäre ich doch nur in der Lage gewesen, dir selbst alles zu erklären! Aber vielleicht kann ich dir ja helfen, es besser zu verstehen.«
Aber Camilla schüttelte nur den Kopf. Sie brachte es nicht übers Herz, ihrer Mutter zu sagen, was sie gesehen hatte. Außerdem glaubte sie, dass selbst Marina letztlich die Augen vor der schonungslosen Realität verschloss.
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