Himmel über Darjeeling
Unterwäsche vor der fremden Frau wiederfand, doch dieser schien es das Natürlichste der Welt zu sein. Einen Augenblick lang musterte sie Helena, dann klatschte sie freudig in die Hände und rief in ihrem hübschen Akzent aus: »So schöne Lady!«
»Finden Sie?« Helena sah verunsichert an ihrem Leibchen hinab, dem Mieder, das ihre Taille schmal schnürte, und den langen Unterhosen, die auf der Mitte ihrer Wade über den weißen Strümpfen mit einer spitzenbesetzten Rüsche endeten.
»Natürlich«, bekräftigte die Schneiderin, während sie an mehreren Stellen ein Maßband um Helena schlang, das sie aus einer Tasche ihres formlosen Kittels gezogen hatte, rasch mit Bleistift auf einem zerknitterten Papier Zahlen notierte, weiter ausmaß, wieder notierte. »Frau muss sein wie Sanduhr, nicht wie Brett!«
Helena kam nicht dazu, länger über diese Bemerkung nachzudenken, denn sofort wurde sie wieder genötigt, in ihr Kleid zu steigen, und kaum hatte die Chinesin das letzte Häkchen geschlossen, dirigierte sie sie wieder zurück in den Hauptraum. Dort herrschte sie zwei schlaksige junge Inder an, ihr einen Stoffballen nach dem anderen zu holen, scheuchte die Jungen auf wackeligen Leitern bis an die Decke hinauf, bis in den letzten Winkel des Raumes, schnappte sich jeweils einen der Ballen, die ihr gereicht wurden, und ließ Bahnen davon wasserfallartig auf die Tischplatte rauschen, während sie munter vor sich hin redete, hier einen Stoff pries, dort eine Farbe oder ein Muster, Bänder und Spitzen von ihren Holzrahmen wickelte und darüberlegte.
Helena gingen die Augen über, und vorsichtig streckte sie die Hand nach einem schimmernden Stoff aus, auf dessen weißem Grund sich verschiedene blaue und türkisfarbene Streifen abwechselten, doch sie wagte es nicht, ihn zu berühren, weil er ihr so kostbar erschien. Sie sah auf, als sie spürte, dass Ian zu ihr getreten war.
»Nur zu«, ermunterte er sie mit einem Kopfnicken, »such dir aus, was dir gefällt!«
»Am liebsten hätte ich sie alle«, flüsterte sie ihm im Scherz zu, doch er zuckte nur mit den Schultern und strich sich amüsiert über seinen Bart.
»Gut, dann nimm sie eben alle!« Er lachte, als er ihr Gesicht sah. »Schau nicht so entgeistert! Such dir einfach aus, was dir gefällt, und nimm es! Mach dir keine Gedanken darüber, was es kostet oder ob du es wirklich brauchst.«
Helena stand einen Augenblick verwirrt da; dann holte sie tief Luft und begann zwischen den Stoffbahnen zu wühlen, ließ sich noch mehr zeigen, diskutierte mit Mrs. Wang hin und wieder über einen Schnitt oder eine Spitzeneinfassung, über die Formen von Ausschnitt oder Kragen, hielt nur dann und wann mit fragendem Blick eine Stoffbahn quer über sich und sah zu Ian hinüber, der mit Mr. Wang ähnliche Diskussionen führte und mit einem Nicken oder einem Kopfschütteln dann seine Meinung zu Helenas Wahl kundtat, ehe er sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder in die feinen grauen und braunen Qualitäten der Herrenstoffe vertiefte. Helena war völlig vernarrt in einen leuchtend himmelblauen chinesischen Seidenstoff, bestickt mit rotgoldenen Drachen, aus dem sie sich einen Morgenmantel anfertigen lassen wollte; sie wählte dünne Stoffe, meist in Weiß oder Creme mit zarten Drucken aus, verschiedene Grün- und Blautöne, ein lichtes Grau, das Mrs. Wang ihr mit hellem Rot zu kombinieren empfahl, suchte meterweise Spitze aus, manchmal nur ein kontrastierendes Band, und nickte begeistert, wenn Mrs. Wang ihr das Papiermuster für eine Stickerei hinhielt und Vorschläge zu den Garnen machte.
Die Schneiderin eilte hierhin und dorthin, holte wie durch Zauberei Seidenblüten hervor, Perlen, Handschuhe aus Seide, hauchfeinem Leder oder gehäkelt, hielt sie an die Stoffe, um Helena zu zeigen, wie sie daran wirken würden, skizzierte mit ein paar Strichen, wie sie sich das Kleid vorstellte, änderte es um, wenn es Helena nicht gefiel, zeichnete es neu, schlug vor, Stoffmuster zu ihrer Schwägerin nach Kalkutta zu schicken, damit diese Entwürfe für die passenden Hüte machen könnte. Helena schwirrte der Kopf vor Farben, Mustern, Schnitten, und sie konnte nicht genug davon bekommen, mit der Hand über die glatten, seidigen, schmeichlerischen Stoffe zu fahren. Ein Stoffballen in der Mitte des Regals zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
»Ist das schön«, murmelte sie gedankenverloren, als sie über die glänzende Seide im Paisleymuster strich, das eine Reihe Abstufungen satter Grün- und
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