Himmel über Darjeeling
den Kopf. »Nein, Helena, nicht in meiner Position. Ich besitze einen der größten Teegärten hier, und mein Tee ist der beste. Ich schäme mich dessen nicht – ich bin stolz darauf, und das zeige ich auch.« Zwei Frauen in gestreiften Baumwollkleidern sahen zu ihnen herüber und steckten tuschelnd die Köpfe unter den breitrandigen Strohhüten zusammen, als sie vorüberfuhren, und Helena war unbehaglich zumute.
»Sie vergessen, dass ich genauso angefangen habe wie sie«, fuhr Ian mit zusammengezogenen Brauen fort, einen harten Unterton in seiner Stimme, »genauso mit meinen Männern mühevoll den Dschungel gerodet habe, Baum um Baum, genauso von Tigern und Schlangen und Insekten bedroht wie sie, dass ich genauso mit meinen Händen die ersten Pflanzen ausgesetzt habe. Aber sie haben nicht vergessen, dass ich einer der ersten Privatmänner war, die hier Land besitzen durften, nachdem erst nur staatliche Gesellschaften ihre Versuchsgärten angelegt hatten. Sie haben nicht vergessen, dass ich sehr viel Land kaufen und viele Leute bezahlen konnte, die es urbar machten. Und sie verzeihen mir vor allem nicht, dass meine Pflanzen widerstandsfähiger sind, eine bessere Qualität liefern. Ich habe die Sünde begangen, mir ein großes Haus statt eines kümmerlichen Bungalows mit zwei Zimmern hingestellt zu haben, die Sünde, so deutlich sichtbar die Früchte zu genießen, die die harte Arbeit von damals heute trägt. Ich bin ihnen suspekt, weil jeder weiß, dass die Arbeiter auf Shikhara besser bezahlt sind und ich sie gut behandle. Es heißt, ich würde mit den Einheimischen fraternisieren ,« ein amüsierter Seitenblick streifte Helena, »eine Todsünde für einen Sahib! Sie warten nur darauf, dass meine Leute mir eines Nachts das Haus anzünden, weil sie glauben, allein eine harte britische Hand sei eine gerechte Hand. Sie lauern auf eine Missernte, einen Schädlingsbefall, und wenn sie könnten, würden sie mich lieber heute als morgen von meinem Grund und Boden verjagen, sollten sie etwas finden, was ich mir habe zuschulden kommen lassen.« Gedankenvoll fuhr er mit dem Finger das Rankenmuster auf Helenas Schulter nach. »Aber das werden sie nicht, denn ich mache keine Fehler. Wahrscheinlich glauben sie, ich habe meine Seele an den Teufel verkauft.«
»Und – hast du das?«, fragte sie herausfordernd, eine Augenbraue hochgezogen.
Ian legte den Kopf in den Nacken und lachte.
»Vielleicht«, funkelte er sie vergnügt an, und im nächsten Augenblick wirkte sein Gesicht ernst, fast düster. »Du weißt doch – alles hat seinen Preis.«
Mit einem sanften Ruck hielt der Wagen, und der Kutscher sprang ab, um die Trittstufen auszuklappen und ihnen den Wagenschlag zu öffnen. Jason, in grauen Hosen, roten Hosenträgern, gestreiftem Hemd und blank geputzten Schuhen, war mit einem Satz draußen, trat ungeduldig von einem Bein auf das andere.
»Wir kommen dann nach«, nickte Mohan Ian zu, der Helena aus der Kutsche half, und Jason winkte ihnen fröhlich zu, ehe er mit Mohan zielstrebig den Papierwarenladen ansteuerte, in dem seine Schulbücher gemäß der von St. Paul’s ausgegebenen Liste bereitlagen.
Ein wenig wehmütig sah Helena ihnen nach. Jason war ihr fremd geworden. Lang aufgeschossen, kräftig und sonnengebräunt, erkannte sie ihn kaum wieder. Es schien, als hätte er sich jeden Tag, den sie in Indien waren, mehr von ihr abzunabeln begonnen, sein eigenes Leben zu führen, erst auf Surya Mahal und nun die wenigen Tage, die sie auf Shikhara waren. Und dennoch war sie froh darüber, denn so unbeschwert hatte sie ihn früher nie gesehen.
»Kommst du?«
Ians Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Lächelnd hielt er ihr den Arm hin, und sie hakte sich bei ihm ein, folgte ihm in eine Seitenstraße der Mall, die in das bunte Gewirr eines Basars führte. Hier waren sie die einzigen Europäer; um sie herum drängten sich braune, kupferfarbene, goldene Gesichter, bengalische, asiatische, mongolisch anmutende, lachend, schwatzend, handelnd, streitend. Tibetische Frauen in Blau und Rot, mit in Silber gefassten Türkisen geschmückt, Nepalesen mit ihren wettergegerbten Gesichtern, zwei buddhistische Mönche in ihren rotgelben Gewändern, die Köpfe kahl geschoren, fröhlich in eine angeregte Unterhaltung vertieft, während sie zielstrebig den Basar überquerten.
Helena wies auf die Farbspuren auf der Straße und den Hauswänden: Blau, Rosa, Rot, Gelb.
»Was ist das?«
»Die Überbleibsel des Holi-Festes. Wir haben es leider
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