Himmel über Darjeeling
Pflanzen und Gießen, aber das würde seine Memsahib sicher auch noch irgendwann lernen. Vergnügt stieß er den Spaten in die schwere Erde und hob die erste Schaufel des zukünftigen Beetes aus.
Helena begutachtete gerade den säuberlich gefalteten und gestapelten Inhalt des Wäscheschrankes, den eines der Mädchen ihr stolz präsentierte, als das leise Knarren der Treppe sie aufhorchen ließ. Es war nicht der schwere Stiefelschritt Ians oder Mohan Tajids, nicht das leichtfüßige Hinauf- oder Hinabeilen eines der Mädchen in leichten Sandalen, oft begleitet vom zarten Geklingel ihres Schmucks, sondern ein müdes, etwas unregelmäßiges Hinaufschleichen. In einer unguten Vorahnung lief sie nach vorne zum Treppenaufgang.
»Jason?«, rief sie ungläubig. »Weshalb bist du schon zurück?« Es war Mitte April; seit zwei Wochen verließ Jason am Sonntag abends das Haus und kehrte am Freitag spätnachmittags erst wieder zurück. Freudestrahlend hatte er am ersten Wochenende von den Lehrern erzählt, seinen Fächern, den Mitschülern, und Helena war erleichtert gewesen, dass er so voller Begeisterung seine Schulzeit begonnen hatte. Doch heute war erst Donnerstag, und etwas an Jason, wie er oben an der Treppe stand, die Art, wie er sich hielt, sich nur zögerlich und nur halb zu ihr umwandte, ihren fragenden Blicken auswich, beunruhigte sie zutiefst.
»Ich gehe da nicht mehr hin«, sagte er tonlos, ehe er die letzten Stufen erklomm und kurz darauf die Tür zu seinem Zimmer ins Schloss fiel. Er hatte sich sehr um einen gleichmäßigen Schritt bemüht, aber Helena war nicht entgangen, dass er mit einem Fuß vorsichtiger auftrat. Sie zögerte einen Augenblick, dann eilte sie hinauf.
Jason lag bäuchlings auf dem Bett, das Gesicht in den verschränkten Armen vergraben. Vorsichtig ließ Helena sich auf der Bettkante nieder und legte eine Hand auf seinen Rücken.
»Was ist passiert?«
Der Junge lag still, aber es gelang ihm nicht, die Schluchzer zu unterdrücken, die durch seinen Körper liefen. Mit sanfter Gewalt drehte Helena ihn zu sich um und erschrak, als sie die gerade verschorfte Wunde neben seinem linken Auge sah, die Schwellung seines Jochbeins, die sich blau zu verfärben begann.
»Bin gefallen«, erklärte er trotzig, aber seine Stimme zitterte, und dicke Tränen quollen aus seinen Augen, die er zornig wegwischte.
»Das glaube ich dir nicht«, entgegnete Helena unbarmherzig und schüttelte ihn liebevoll. »Was ist wirklich geschehen?«
Jason unternahm einen halbherzigen Versuch, sich ihr heftig zu entziehen, aber er hatte keine Kraft mehr, und wie ein Sturzbach brach es aus ihm heraus. Stockend und unzusammenhängend, immer wieder von Schluchzern unterbrochen, erzählte er davon, sich sowohl beim Cricket als auch beim Rugbyspiel bis auf die Knochen blamiert zu haben, weil er der Einzige war, der die Regeln nicht kannte; er berichtete von Sticheleien gegen Ian, den Jason vergeblich zu verteidigen versucht hatte; von spurlos verschwundenen Büchern und einem ebenfalls unauffindbar gebliebenen Lineal, das ihm mehrere Strafpunkte eingebracht hatte; von Rempeleien und Schubsern, die er unter hämischen »Streber, Streber«-Rufen hatte über sich ergehen lassen müssen; von einem im Schlaf über ihm ausgekippten Nachttopf, der zur Folge hatte, dass er einen schriftlichen Verweis von seinem Hausvater erhielt und ihn die anderen Schüler seit zwei Tagen feixend »Bettnässer« riefen. Und alles gipfelte in der Schlägerei der heutigen Mittagspause, in der Jason dem Anführer der bestimmenden Schülergruppe, Hugh Jackson, und seinem Adlatus Frank Bennett hoffnungslos unterlegen gewesen war. Ohne seine Sachen zu packen, war er blind vor Zorn und Demütigung zu den Ställen gelaufen, hatte sich Sattel und Pferd geschnappt und war getürmt. Er schämte sich für diese feige Flucht, aber er war entschlossen, nicht mehr nach St. Paul’s zurückzukehren.
Stumm ließ Helena ihn erzählen, weinen, wütend auf sein Kissen einhauen. Sie wusste keinen Rat, keinen Trost, außer ihn festzuhalten. Als er schließlich erschöpft innehielt, wischte sie ihm über das nasse Gesicht, spürte, dass er nun, nachdem alles heraus war, allein sein wollte.
»Ich verspreche dir, du musst nicht mehr zur Schule, wenn du nicht willst.« Jason nickte, wenig überzeugt, und fuhr sich mit dem Ärmel trotzig über seine laufende Nase. Helena strich ihm über das wirre, nach allen Seiten abstehende Haar und schloss leise die Tür hinter sich. Sie
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