Himmel über Darjeeling
Brauntöne beinhaltete.
»Ist kein Stoff für Lady«, bedauerte Mrs. Wang, »ist gemacht für Gentleman!«
Dennoch konnte Helena sich nicht von dem Stoff trennen. Er erinnerte sie an Shikhara, an die Farben der Teefelder, der Wälder und bewachsenen Hänge, an das Braun der Erde, und verstohlen sah sie zu Ian hinüber, der stirnrunzelnd in einem Katalog blätterte und den Ausführungen von Mr. Wang lauschte. Es würde ihm gut stehen. Aber ob es ihm auch gefallen würde? Es kam ihr anmaßend vor, für Ian, der einen so sicheren Geschmack besaß, etwas auszusuchen, und doch schien ihr dieser Stoff genau das Richtige für ihn zu sein.
»Könnten«, sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern, sodass nur Mrs. Wang sie noch verstehen konnte, »könnten Sie meinem Mann eine Weste daraus machen? Ich würde ihn gerne damit überraschen.«
Die Schneiderin tätschelte ihr den Arm und nickte ihr verschwörerisch zu, mit einem so breiten Lächeln, dass ihre schwarzen Augen nur noch zwei Striche in ihrem runden Gesicht waren.
»Und ob wir das machen! Mit dunkelbrauner Seide für den Rücken!«
»Ich nehme an, du bist fündig geworden.«
Helena drehte sich zu Ian um und presste ihre Hand auf den Magen.
»Oh Ian, mir ist ganz schlecht! Mir hat so vieles gefallen – das kann ich unmöglich alles nehmen!«
Er lachte. »Natürlich nimmst du es! Ich kann mir weitaus schlechtere Investitionen für mein Geld vorstellen!« Eindringlich sah er sie an. »Ich möchte, dass du über mein Geld verfügst, als sei es deines.«
Verwirrt wandte Helena ihren Blick ab. Sie wusste, sie hätte sich über seine Großzügigkeit freuen müssen, doch sie konnte es nicht; sie schmeckte schal, als versuchte er sie damit über etwas hinwegzutrösten, was ihr wichtiger gewesen wäre. Das Gepolter und Gelächter, als Jason, gefolgt von Mohan Tajid, in die Schneiderei stürmte, rettete sie aus der Verlegenheit, ihm eine Antwort schuldig bleiben zu müssen.
»Nela, stell dir vor, sie hatten alle Bücher da! Und Mohan hat mir noch ein paar andere gekauft, die ich spannend fand. Und Zirkel und Lineal und jede Menge anderes Zeug. Die Kutsche hängt jetzt sicher hinten über, sind ganz schön schwere Pakete! Hast du was gefunden?« Neugierig beäugte er den Wirrwarr von Stoffen, Bändern, Skizzen. »Das gefällt mir, das auch – und das, na ja …« Kritisch zog er die sommersprossige Nase kraus, dann sah er seine Schwester spitzbübisch an: »Aber ich muss es ja zum Glück nicht tragen!« Spielerisch duckte er sich, als hätte er einen Schlag erwartet; stattdessen packte Ian ihn scherzhaft im Genick und schob ihn in Richtung von Mr. Wang.
»Jetzt bist du dran, junger Mann. So können wir dich unmöglich zur Schule lassen.«
Während der Schneider Jasons Maße für die Schuluniform nahm, was dieser sichtlich hin- und hergerissen zwischen Stolz und peinlicher Berührtheit über sich ergehen ließ, und Mr. Wang zehnmal versicherte, er würde Blazer und Hosen rechtzeitig zu Schulbeginn liefern lassen, spürte Helena Beklommenheit in sich aufsteigen. Nur mehr gut drei Wochen, und sie würde Jason nur noch am Wochenende zu Gesicht bekommen. Sie wusste, dass es an der Zeit war, ihn loszulassen – seine Kindheit neigte sich rasend schnell dem Ende entgegen, und doch fiel es ihr so unendlich schwer. Manchmal spürte sie einen Anflug von Eifersucht, wenn sie sah, wie vertraut er mit Mohan Tajid war, wie bewundernd er zu Ian aufsah – und gleichzeitig war sie erleichtert, die Verantwortung für ihn nicht mehr alleine auf ihren Schultern zu wissen. Solange sie denken konnte, war sie allein für Jason da gewesen, und oft, wenn ihr alles unerträglich zu sein schien, ihre Armut, die Wutausbrüche ihres Vaters, seine Gleichgültigkeit, wie sie mit ansehen mussten, wie er sich langsam zugrunde richtete, dann war es der Gedanke an Jason gewesen, der sie die Zähne hatte zusammenbeißen, ein fröhliches Gesicht aufsetzen lassen, nur, damit er nicht allzu sehr darunter litt. Und zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass sie auch noch ein eigenes Leben hatte, um das sie sich kümmern musste.
Als sie wenig später alle zusammen wieder durch den Basar schlenderten, in Richtung der Mall, wo der Kutscher geduldig auf sie wartete, Jason den Mund voll phaler bora , machte Helena vor den ausgebreiteten Schätzen eines Goldschmiedes Halt.
»Möchtest du dir etwas kaufen?«
Helena schüttelte den Kopf und wagte kaum, Ian anzusehen, als sie sagte: »Nicht für mich. Ich würde
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