Himmel über Darjeeling
atmete tief durch, als müsste sie sich selbst zur Ruhe ermahnen, ehe sie in die Küche hinabhastete und eines der Mädchen mit einem Eisbeutel und einer Tasse heißer Schokolade nach oben schickte. Dann verließ sie eilig das Haus – sie brauchte etwas Zeit und Abstand, um nachdenken zu können.
Es war schon später Nachmittag; die Sonne stand tief, tauchte die schrundigen Wände des Himalaya in ein goldenes Bad, als Helena hinüber zur Koppel ging, in langen, zornigen Schritten. Sie tobte vor Wut über die gemeinen Bälger, die Jason derart gepiesackt hatten, die Gleichgültigkeit der Lehrer, haderte mit dem Schicksal, dass ihr Bruder auch hier zum Außenseiter abgestempelt worden war.
Immer, wenn ihr Kopf schwirrte von Zahlen, Einkaufslisten, dem regelmäßigen Turnus von Wäschewaschen, Besteckpolieren, Mahlzeitenzusammenstellen, kam sie hierher. Wenn sie den Pferden zusah, die gemütlich das saftige Gras herauszupften und müßig durch die Gegend blickten, dann von einer Sekunde zur nächsten aus einem Impuls heraus ihre Mähnen schüttelten und davongaloppierten, eine Runde drehten, wieder in langsameren Schritt verfielen, stehen blieben, einander jagten oder vertraut die Hälse aneinander rieben – dann hatte sie das Gefühl, selbst zur Ruhe zu kommen und durchatmen zu können. Mit finsterer Miene legte sie die verschränkten Arme auf die oberste Latte des Zaunes, ließ ihren Kopf darauf ruhen, fieberhaft darüber nachbrütend, was zu tun war, wie sie Jason am besten helfen könnte, und sie spürte, wie sie sich fast sogleich entspannte, Kraft schöpfte, ihr Verstand, eben noch ein wütender Wirbel, ruhiger zu werden begann, als sie einfach den Tieren zusah.
Sarasvati hatte sich gut von der schweren Geburt erholt; ihr Fell schimmerte wie glänzende Kohle, und Lakshmi, eine kleinere Ausgabe ihrer Mutter, trabte stolz auf ihren langen Beinen umher, stupste frech die anderen Pferde an, schnupperte neugierig in den Wind, der von den Bergen herüberzog, und suchte doch immer wieder die Nähe ihrer Mutter. Die Pferde von Shikhara waren einzigartig – Helena hatte ihresgleichen noch nie gesehen. Obwohl ihr Araberblut deutlich zu erkennen war, schienen sie doch mehr in sich selbst zu ruhen als ihre Verwandten, weniger nervös und dabei nicht minder temperamentvoll. Als verbände sich in ihnen die ewige Kraft der Berge, die Schnelligkeit des Windes und das Feuer der Sonne; und der Regen, der Wälder und Wiesen tränkte, üppig und tiefgrün wachsen ließ, schien ihrem Fell einen besonderen Glanz zu verleihen.
Ein Rascheln im Gras hinter ihr ließ sie aufsehen, und ihr Herz machte einen kleinen Satz, als sie Ian in leichtem Trab auf die Koppel zureiten sah. Ganze Tage verbrachte er derzeit auf den Teefeldern und in der Manufaktur, denn die Zeit der Ernte rückte unaufhaltsam näher, begann in und um das bislang im Schlaf liegende langgestreckte Gebäude zwischen den grünen Flächen eine emsige Betriebsamkeit. Immer wieder berührte es sie, wie gut Ian aussah, auf eine dunkle, wilde Art, staunte sie darüber, wie er eins zu sein schien mit dem Pferd, als wäre er in einem Sattel zur Welt gekommen, und in Momenten wie diesen spürte sie ihre Liebe zu ihm mit einer solchen Heftigkeit, dass es ihr den Atem nahm. Und gleichzeitig versetzte ihr es jedes Mal einen feinen Stich, dass er ihr immer noch so fremd war, dass die Augenblicke der Nähe so flüchtig, so unbeständig waren wie die Wolken, die von den Bergen herüberzogen und wieder im Blau des Himmels verschwanden.
Wenige Schritte vor der Koppel ließ er Shiva anhalten und stieg ab, führte ihn an den Holzzaun und schlang den Zügel um die obersten Latte.
»Was bedrückt dich?«, fragte er statt einer Begrüßung.
Helena bohrte den Absatz ihres Stiefels in den feuchten Boden, sah zu, wie er die Grashalme platt drückte, sich um ihn die dunkle Erde zur Seite schob, halb verärgert, halb froh darüber, dass er sie so gut zu kennen schien.
»Jason«, sagte sie schließlich mit einem tiefen Ausatmen, ihren Blick konzentriert auf die Pferde gerichtet. »Die Schule.« In wenigen Sätzen erklärte sie ihm, was vorgefallen war, und Ian hörte ihr aufmerksam zu.
Er schwieg, als sie geendet hatte, sah einem der Pferde zu, wie es wiehernd aufstieg und in einem donnernden Galopp über die gesamte Länge der Koppel rannte, schließlich schnaubend zum Stehen kam, Ians Gesicht undurchdringlich, die Augen unergründlich, als würde er einem für Helena unhörbaren Echo
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