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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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ihrer Worte lauschen, und ein paar Herzschläge lang hatte sie das Gefühl, etwas hätte ihn von ihr fortgeholt, in eine andere Welt, eine andere Zeit, als verlöre sie ihn in diesem Augenblick. Doch sie brachte es nicht über sich, ihn zu berühren, sich zu vergewissern, dass er noch neben ihr stand, keine Sinnestäuschung war – als trennte sie eine unsichtbare Mauer voneinander. Doch als er sie gleich darauf ansah, war der Spuk vorüber, nur etwas in seiner Stimme, rau und uneben, die Spur eines Missklangs, erinnerte noch daran. »Ist es dir recht, wenn ich nach ihm sehe? Ich denke, das ist eine Sache unter Männern.«
    Helena zögerte und sah Ian irritiert an, als dieser unvermittelt loslachte.
    »Natürlich ist dir das nicht recht«, sagte er amüsiert. Er fasste unter ihr Kinn und fuhr mit dem Daumen sanft über ihr Grübchen dort. »Weißt du, wie ähnlich wir uns im Grunde sind?«, raunte er ihr zu, ein Glitzern in seinen Augen. »Du scherst dich ebenso wenig wie ich darum, was sich für Ladys oder Gentlemen geziemt. Du hast ebenso gern wie ich die Zügel in der Hand und wehrst dich dagegen, wenn jemand sie dir abnehmen will. Und du willst immer deinen Kopf durchsetzen – so wie ich.« Ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel, ehe er sie unvermittelt losließ und zu Shivas Zaumzeug griff. Helena sah ihm nach, als er gemütlich, ohne Hast, zum Haus hinüberritt.
    In den folgenden beiden Tagen konnte Helena zuerst kaum mit ansehen, wie Ian und Mohan Tajid stundenlang gezielte Schläge, Tritte, Klammergriffe und Ausweichmanöver mit Jason übten, wie die beiden ausgewachsenen Männer den Jungen in Scheinkämpfen unerbittlich in die Zange nahmen. Jason, hochrot im Gesicht, brach anfangs oft in wütende Tränen aus – wütend, weil er nicht gegen sie ankam, wütend, weil sich all die Demütigungen der Schultage in ihm aufgestaut hatten. Doch genau diese Wut war es, die ihm die nötige Energie verlieh, und nachdem er zuerst wahllos auf sie eingedroschen hatte, begann er, die gezeigten Bewegungen zu verinnerlichen, in sich ruhend, jeden Muskel angespannt, gezielt zuzuschlagen, Hiebe abzuwehren, sich geschickt zu befreien, wenn er festgehalten wurde. Und irgendwann fand Helena sich dann doch auf der Veranda wieder, lautstark ihren Bruder anfeuernd, zusammen mit Vikram und ein paar der Mädchen, die ihre helle Freude an diesem Schauspiel hatten, umso mehr, als die Stimmung irgendwann in eine wilde Balgerei umschlug, an deren Ende sich die drei japsend, lachend, johlend in einem Knäuel von Armen und Beinen auf dem inzwischen recht ramponierten Rasen wiederfanden, was Vikram zu einem augenzwinkernden Klagegesang veranlasste.
    Helena staunte über die Geschicklichkeit und Geschmeidigkeit, mit der sich Ian und Mohan Tajid bewegten, obwohl deutlich sichtbar war, dass sie sich kaum anstrengten, die Kämpfe auf das Niveau von Heranwachsenden begrenzten. Ihre Bewegungen hatten nichts vom ungezielten Drauflosschlagen einer Gasthausprügelei; sie waren elegant und wohl einstudiert. Als hätten sie es irgendwann einmal von Grund auf gelehrt bekommen …, dachte Helena.
    Natürlich war Jason den beiden Männern unterlegen; dennoch war es ihm gelungen, ihnen den einen oder anderen schmerzhaften Tritt vor das Schienenbein oder einen heftigen Knuff zwischen die Rippen zu versetzen. Doch das Entscheidende war, dass diese Kämpfe ihm den Mut gaben, sich zur Wehr zu setzen, so viel Mut, dass er von sich aus beschloss, am Montagnachmittag zur Schule zurückzukehren, ein Schreiben von Ian als sein Vormund im Gepäck, das sein unerlaubtes Fernbleiben erklärte und entschuldigte, ohne Jason noch zusätzlich zu demütigen.
    Bevor er aufbrach, stopfte er sich beim Tee auf der Veranda noch mit Bergen von Scones mit Marmelade und Sandwiches voll, denn das Essen in St. Paul’s war bestenfalls durchschnittlich zu nennen. Mohan Tajid verspätete sich, und als er seinen Platz am Tisch einnahm, schob er mehrere zugeklebte Papiertütchen unter Jasons Untertasse. Der Junge runzelte die Stirn. »Was ist das?«
    »Juckpulver«, sagte Mohan Tajid sachlich und nickte freundlich dem Diener zu, der fragend die Teekanne emporhielt, und nur wer genau hinsah, konnte das verräterische Zucken seiner Mundwinkel unter dem Bart erkennen. »Kann in Hemden, Hosen und Pyjamas in unbeobachtet gelassenen Schränken wahre Wunder vollbringen.«

22
      G leißend warf die Sonne ihr Morgenlicht über die weißen Hauben des Himalaya, löste den Dunstschleier

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