Himmel über Darjeeling
was sehr selten ist und entsprechend teuer bezahlt wird. Hier erhält der Tee seine Farbe und vor allem die Feinheit seines Aromas.« Der Lärm der Rollmaschinen flaute ab, als sie einen langgezogenen Raum betraten, durch dessen kleine Fenster die Sonne Muster auf Wände und Boden warf. Die feuchte Wärme der Luft, schwer vom herben Duft des Tees, nahm Helena den Atem. Hier war es still, und Mohan Tajid senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als sie an den rechteckigen Teppichen aus ausgebreiteten Teeblättern in Braun- und staubigen Grüntönen vorübergingen.
»In diesem Raum findet das eigentliche Geheimnis des Tees statt. In einer mit mindestens neunzig Prozent Feuchtigkeit gesättigten Luft, bei konstanter Wärme, fermentiert der Tee. Ist die Temperatur zu hoch, verbrennen die Blätter; sinkt sie zu weit herab, bricht die Fermentation ab. Was genau im Inneren der Zellen abläuft, ist unbekannt. Zwischen ein und drei Stunden muss der Tee hier ruhen, und das Talent eines Teepflanzers zeigt sich vor allem daran, dass er genau weiß, wann der Tee optimal fermentiert ist. Und ich habe schon einige Arbeiter, die ihr ganzes Leben in Teegärten und Manufakturen verbracht hatten, sagen hören, dass Ian dies im Blut habe – als höre er die Stimme des Tees.«
Ebenso heikel war schließlich das Trocknen des Tees, in eigens dafür eingerichteten Kammern, von heißer Luft durchströmt: Trocknete er zu wenig, drohte er bald zu verschimmeln; war er zu lange der Hitze ausgesetzt, verlor er sein kostbares Aroma. All dieser Aufwand machte aus den zarten grünen Blättern der weiten Hügel Darjeelings – zwanzigtausend two leaves and a bud für ein Kilogramm – den first flush , die erste Ernte des Jahres, den höchstbezahlten Tee der Welt.
Von Tagesanbruch bis spät in die Nacht herrschte geschäftiges Treiben auf den Feldern, in den Gebäuden der Manufaktur und, sofern es Helena betraf, im hinteren Teil des Hauses. Eile war geboten, denn jeder Tag, der verstrich, konnte jener Tag zu viel sein, der das einzigartige Aroma der Teeblätter sich abschwächen ließ und eine Einbuße an Qualität bedeutete. Todmüde stolperte Helena Nacht für Nacht in ihr Bett, für wenige Stunden bleiernen Schlafs, ehe sie in den frühen Morgenstunden wieder auf den Beinen war. Hunderte von Arbeitern wollten versorgt, kleinere Verletzungen verbunden, Arzneien verabreicht oder Kranke zum Arzt geschickt werden, und inzwischen musste der Haushalt weiter wie ein gut geöltes Uhrwerk laufen.
Jason schien es nicht zu kümmern, dass sie kaum Zeit für ihn hatte; fast alle seine Mitschüler teilten in den Wochen der Ernte das gleiche Schicksal, dass sie sich mehr oder weniger sich selbst überlassen blieben; manche fehlten gar eine Woche oder zwei, weil zu Hause in den Teegärten jede Hand gebraucht wurde, was die Lehrer mit Nachsicht behandelten, solange die Leistungen nicht allzu sehr darunter litten. Wenn er nicht über seinen Büchern saß oder Mohan Tajid ein paar Stunden für einen gemeinsamen Ausritt abbetteln konnte, half Jason mit, Teekisten zu packen und zu stapeln. Die Papiertütchen hatten ihre Aufgabe zur vollsten Zufriedenheit erfüllt; begeistert hatte er pantomimisch vorgeführt, wie Hugh und Frank, kleinen Wutteufelchen gleich, spätabends durch den Schlafsaal gesprungen waren, nachdem Jason heimlich ihre Pyjamas mit dem Pulver imprägniert hatte. Sein Meisterstück war jedoch gewesen, Hugh mit einem gut platzierten Boxhieb in die Magengrube zu Boden geschickt zu haben – was einen erneuten schriftlichen Verweis für Jason zur Folge gehabt hatte, den er aber eher als Auszeichnung denn Strafe betrachtete. Und obendrein hatte er sich dadurch die Anerkennung vieler Schüler, die ebenfalls unter den Schikanen Hughs zu leiden hatten, gesichert. Im Handumdrehen hatte er seinerseits eine Hand voll Jungen um sich geschart, denen er heimlich die wichtigsten Tricks beibrachte, um sich gegen Hughs Mitstreiter zur Wehr setzen zu können. Nach einigen tumultreichen Tagen hatte sich eine Art verächtlicher Waffenstillstand zwischen den beiden Gruppen ergeben, der nur dann und wann noch von kleineren Raufereien und gegenseitigen Streichen unterbrochen wurde – und natürlich auf dem Rugbyfeld regelmäßig außer Kraft gesetzt wurde. Mit zweien oder dreien seiner Mitschüler hatte er sich sogar enger angefreundet, vor allem mit Freddie Beesley, der als Sohn eines der Lehrer von St. Paul’s unter besonders heimtückischen Attacken Hughs zu leiden
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