Himmel über Darjeeling
auf, der wie ein letzter Atemhauch der Dämmerung über den grünen Hügeln lag. Behände und doch mit der ihnen eigenen Anmut stiegen hintereinander die Frauen die schmalen Wege der Anhöhe hinauf. Aus der Ferne erinnerten sie in ihrer einfachen, bunten Kleidung – Rubinrot, Türkis, Kobaltblau, Moosgrün, Safrangelb – an eine Kette aus Glasperlen, vermischte sich das Klingeln ihres Silberschmucks mit dem Rascheln der Blätter, die sie im Vorübergehen streiften. Ihre kleine und gedrungene Gestalt, die dunklen, schräg gestellten Augen in ihren kräftigen, starkknochigen Gesichtern verrieten ihre Herkunft aus den Bergen. Mit emsigen Fingern begannen sie ihr Tagwerk, die oberste Knospe und die beiden darunterliegenden Blätter eines jeden jungen Triebs, two leaves and a bud , zu pflücken, warfen die auf den ersten Blick unscheinbare und doch so kostbare Ernte in der stets gleichen raschen Bewegung in den geflochtenen Korb auf ihrem Rücken. Leicht ging ihnen die Arbeit von der Hand, täuschte über die stundenlange Plackerei unter der heißen Sonne hinweg, die die Feuchtigkeit des Bodens in die Luft aufsteigen ließ, und doch schienen die Arbeiterinnen ebenso leichten Herzens zu sein. Leise klangen ihre Lieder über den schweigenden Hügel, Gesprächsfetzen in den rollenden, schnellen Dialekten der Berge, helles Gelächter vor dem Flüstern des Windes in den Blättern.
Nur wer die anderen Teegärten während der Ernte kannte, bemerkte das Fehlen der weiß gekleideten Vorarbeiter, die mit Argusaugen über die Pflückerinnen wachten, sie in scharfem Tonfall zur Eile antrieben oder zu mehr Sorgfalt anhielten und sie auf dem Weg zur Manufaktur begleiteten. Der Teegarten von Shikhara schien ohne diese Kontrollen zu funktionieren und dabei nicht weniger Gewinn abzuwerfen, im Gegenteil, und einige der benachbarten Pflanzer beobachteten diesen laxen Umgang mit den Arbeiterinnen voller Argwohn. Und es gab wohl keinen zweiten Garten im Umkreis von mehreren Hundert Meilen, in dem die Memsahibselbst, in einfachem Hemd und Reiterhosen, zusammen mit ihrem Küchenpersonal die Arbeiterinnen mit madra , in Joghurt und ghee gekochten Kichererbsen, mit palda , in Joghurt gedünstetem Gemüse, und mit durch wilde Minze erfrischendem chai versorgte, ehe sie sich wieder auf den Weg in die Teefelder machten.
Schon von weitem war das Dröhnen und Rattern der Maschinen zu hören; im Inneren der Manufaktur selbst herrschte ein Höllenlärm. Im Halbdunkel, in großer Hitze und zwischen den eisernen Ungetümen eilten geschäftig Arbeiter hin und her; gemäß dem alten Spruch, nach dem die Seele des Tees in den Händen der Pflückerinnen liege, die Manufaktur aber sein Herz und sein Hirn bestimme, waren die langgezogenen Gebäude eine reine Männerdomäne. Hier wurden beim Welken die Blätter weich und geschmeidig gemacht, indem sie auf den obersten Stockwerken in einer dünnen Schicht auf mit Jute bespannten Rosten ausgebreitet wurden, zwischen denen warme Luft zirkulierte, die den Blättern die Hälfte des Wassergehalts entzog, sie so weich und geschmeidig machte, damit sie beim anschließenden Rollen nicht brachen. In der Regel wurden die Blätter einen Tag lang beim Welken gelassen, doch Ian selbst kontrollierte nahezu stündlich den Zustand der ausgebreiteten Ernte und entschied ohne einen Blick auf die Uhr, wann sie zum Rollen gegeben werden konnte.
Imposante, schwerfällige Rollmaschinen, in denen schwere Metallscheiben sich gegeneinander drehten, zerquetschten die Zellwände der Blätter und setzten die darin enthaltenen ätherischen Öle frei, die kampferartig betäubend die Luft um die Maschinen tränkten. Auf langen Sieben wurden die gerollten Blätter aufgeschüttelt, mit flinken, geschickten Fingern nach Größe der Blätter und danach sortiert, ob sie ganz oder gebrochen waren.
Helena hatte anfangs der Kopf geschwirrt von Begriffen wie orange pekoe oder flowery orange pekoe ,mit denen die unterschiedlichen Güteklassen ein und derselben Ernte bezeichnet wurden; doch sie lernte rasch, mit einem Blick die fast drahtdünn eingerollten Blättchen, oft nicht länger als einer ihrer Fingernägel breit, einzuordnen und mit den entsprechenden Bezeichnungen zu versehen
»Der Tee von Shikhara besteht überdurchschnittlich häufig aus dem tippy golden flowery orange pekoe «, hatte ihr Mohan Tajid erklärt, als er ihr die Manufaktur zum ersten Mal zeigte, »das heißt, dass die Spitzen aller Blätter eine goldbraune Farbe haben –
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