Himmel über Darjeeling
gehabt hatte; denn sich offensiv das Wohlwollen eines Lehrers zu verscherzen, wagte selbst ein Hugh Jackson nicht. Und weil Freddie sich Schöneres vorstellen konnte, als auch die gesamten Wochenenden auf dem Schulgelände zu verbringen, auf dem das kleine Wohnhaus stand, in dem er als Halbwaise mit seinem Vater lebte, fand sich oft ein zusätzlicher Gast am Teetisch der Nevilles ein, ehe die beiden Jungen wieder in Richtung der Manufaktur oder der Pferdekoppel davonstoben.
So anstrengend die Zeit der Ernte auch war, so sehr genoss Helena es, ihren Teil dazu beizutragen, die Tagesabläufe zwischen Küche, Wäscherei und Garten, Haus und Manufaktur zu organisieren und zu koordinieren, mit ihren Angestellten zu scherzen und zu plaudern, unter Gelächter von den Pflückerinnen einzelne Worte in den verschiedenen Dialekten des Gebirges zu lernen, fieberhaft Lösungen für die alltäglichen Probleme zu finden, mit denen sie im Überfluss bestürmt wurde – Zankereien unter den Dienstmädchen, Unzufriedenheit mit der Ware des Fischhändlers, Mäuse in der Vorratskammer, zerschlagenes Porzellan, angelaufenes Silber, private Nöte der Dienstboten. Anfangs glaubte sie oft zu verzagen vor all den Aufgaben, die es jeden Tag zu bewältigen galt, ihr war vieles fremd und unbekannt; doch sie hörte zu, beobachtete, stellte Fragen, gewann mehr und mehr Vertrauen in sich, ihre Entscheidungen und ihr Tun, freute sich über die Wärme und Herzlichkeit, die ihr entgegengebracht wurden.
Ian bekam sie nur selten zu Gesicht, aber was sie in den wenigen Augenblicken sah, gefiel ihr: wie er trotz des Zeitdrucks und der immensen Arbeit eine gelassene Ruhe und Konzentration ausstrahlte; die Art, wie er mit den Pflückerinnen und Arbeitern umging – immer freundlich und doch bestimmt, nie herrisch, nie von oben herab, das ebenso respektvolle wie warmherzige Leuchten in den Augen der Männer und Frauen, wenn er mit ihnen sprach, und sie errötete vor Freude, wenn er sie im Vorübergehen auf die Wange küsste und ihr ein paar Worte der Anerkennung oder ein Dankeschön zuflüsterte. Es schien ihr, als sei sie schon immer ein Teil dieser – seiner – Welt gewesen, seines Lebens, als hätte sie ihren Platz gefunden, eine bestimmte Art von Glück. Und doch kroch in den wenigen Momenten des Innehaltens, des Atemschöpfens ein Gedanke von kalter Beklommenheit in ihr hoch: Wie lange kann das gut gehen … Wie lange noch?
23
D ie Sonne brannte schon am Vormittag heiß auf das Pflaster, und doch war die Luft in Darjeeling ungleich angenehmer als unten im Gangesdelta, ähnelte einem herrlich beschwingten europäischen Frühsommer. Es war Ende Mai, und über Kalkutta und den es umgebenden Ebenen lag drückend die schwülfeuchte Luft des bengalischen Sommers, erschwerte jede Bewegung, machte jeden Atemzug zu einer schweißtreibenden Mühsal. Wer es sich leisten konnte, war vor der Hitze bereits in die Berge geflohen, und so wimmelte die Mall von schwatzenden Ladys in hochgeschlossenen Nachmittagskleidern aus bunt bedruckten, leichten Stoffen und kecken Hütchen, kleinen Jungen in Matrosenanzügen, die Reifen vor sich hertrieben, ihren Schwestern oder Cousinen in Rüschen und Spitzen, sittsam an der Hand einer englischen Nanny oder der weitaus häufigeren ayah , der indischen Amme im bunten Sari, von Soldaten in ihren schmucken Uniformen oder zivilen Beamten in förmlichen Anzügen und steifen Kragen, den Bowler- oder Strohhut grüßend ziehend, wenn sie auf einen Bekannten trafen.
So geduldig Richard Carter seine Ankunft hier erwartet hatte, so sehr hatte sich eine fieberhafte Eile seiner bemächtigt, je näher seine Reise ihn Darjeeling brachte. Jede Meile, die er per Eisenbahn und zu Pferd zurückgelegt hatte, schien unsäglich lang. Er hatte kaum Augen für die Landschaft gehabt, die an ihm vorüberflog; er zählte nur Meilen, Stunden, Tage; dürre metrische Einheiten, die ihn vom Ziel seiner Reise, seiner Sehnsucht trennten. Und die Zeit war kostbar: Noch unterwegs erreichte ihn die Nachricht, dass Ian Neville nach Kalkutta aufgebrochen war, um die Verschiffung des Tees im Hafen dort selbst zu überwachen. Ein kurzes Bad mit Rasur, frische Wäsche und ein Reitanzug, und eilig schwang er sich auf das Pferd, das er telegrafisch bereits im Voraus angemietet hatte.
Enge Gassen schlängelten sich von der Mall aus durch die Hügel, und zwischen Baumgruppen und hoch aufgeschossenen Bambusrohren stapelten sich die Häuser mit ihren kleinen
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