Himmel über Darjeeling
verwirrt, und rief nach dem Mädchen, das sofort eilfertig begann, den Tisch auf der Veranda zu decken.
Wenig später nippte Richard an seinem Tee, der leicht und herb und süß zugleich schmeckte, an die Luft der Berge erinnerte, den Duft der Wälder und an reife, saftige Orangen.
»Ich bin kein Kenner, aber Ihr Tee ist vorzüglich.«
Helena strahlte. »Das ist unser eigener, der first flush , die erste Ernte dieses Jahres.«
Richard senkte den Blick. Schneller als ihm lieb war, tauchte der Schatten Ian Nevilles neben ihm auf, der Besitzer der Teepflanzung, dieses Gartens, dieses Hauses – und Helenas.
»Was führt Sie nach Darjeeling, Mr. Carter?«, drang Helenas Stimme in seine Gedanken, und er sah auf, als Helena in helles Lachen ausbrach und ebenso verlegen wie amüsiert den Kopf über sich selbst schüttelte. »Ich bin nicht besonders geübt darin, höflich Konversation zu machen, fürchte ich!«
Richard stimmte in ihr Lachen mit ein, voller Wärme und Sympathie.
»Nun.« Er räusperte sich. Sie sind es, die mich hierher geführt hat – weil ich Sie nicht vergessen konnte, all die Monate nicht, lag es ihm auf der Zunge; stattdessen antwortete er: »Ich habe geschäftlich hier zu tun. Und ich dachte, Sie könnten eventuell bereit sein, mir ein wenig die Gegend zu zeigen.«
Helena musterte ihn aufmerksam, und er wich ihrem Blick aus, indem er in die Tasse hinabsah, die er mit seiner kräftigen Hand umschloss, schuldbewusst ob seiner Notlüge den karneolfarbenen Tee mit der hellen, blassgoldenen Aureole am Rand betrachtend. Er spürte, dass sie ihm kein Wort glaubte; doch zu seiner Überraschung hörte er sie nach einer kleinen Pause sagen: »Sehr gern.«
Still lag das Haus da. Es war schon spät, alle bereits zu Bett gegangen, nur Helena saß noch im Arbeitszimmer und hatte im Schein einer Lampe Papiere, Rechnungen und Notizzettel um das große, ledergebundene Buch ausgebreitet, in das sie gewissenhaft alle Ausgaben für Haushalt und Garten einzutragen pflegte. Das unaufdringliche Ticken der Uhr auf dem Kaminsims wurde von einem silbrigen Stundenschlag unterbrochen, und Helena schreckte auf. Schon ein Uhr … Betreten sah sie auf die noch leeren Seiten, all die Papiere, die sie wohl ein Dutzend Mal in die Hand genommen und wieder beiseite gelegt hatte, den Federhalter, dessen Tinte längst eingetrocknet war. Aufseufzend lehnte sie sich gegen das lederne Polster des Stuhles, das unter ihr behaglich knarrte, und starrte in das Dunkel des Raumes.
Obwohl der goldene Lichtkegel der Lampe kaum über die große Fläche des Schreibtisches hinausreichte, glaubte sie das Zimmer in allen Details vor sich sehen zu können: der große Globus auf seinem gedrechselten Holzfuß, das Tigerfell vor dem marmornen Kamin, die bronzene Statue Shivas, wie er in seinem wilden Tanz die Schöpfung unter seinen Füßen zertrat, der niedrige Schrank mit seinen geschnitzten Türen, in denen Ian die Geschäftsbücher des Teegartens aufbewahrte.
Seit die letzten Teeblätter in Kisten verpackt worden waren, seit Ian und Mohan Tajid auf ihren Pferden Shikhara verlassen hatten, um die Wagen mit ihrer kostbaren Fracht sicher nach Shiliguri zu geleiten, und von dort per Eisenbahn in den Hafen von Kalkutta, seitdem hatte Helena viel Zeit. Zu viel Zeit, und unbequeme Gedanken hatten sich in ihr zu regen begonnen.
Ian fehlte ihr. Es war etwas anderes, ob sie ihn nur wenige Stunden am Tag sah, ihn aber auf den Feldern oder der Manufaktur wusste – oder aber Hunderte von Meilen von ihr entfernt. Und mit jeder Stunde, die sie alleine war, drängten sich ihr immer neue Fragen auf, Fragen, denen letztlich immer nur ein einziges Rätsel zugrunde lag: Wer war Ian wirklich?
Er hatte ihr erzählt, dass er in einem Tal des westlichen Himalaya geboren worden war, aus dem seine Familie fliehen musste, als er ungefähr in Jasons Alter gewesen war. Warum mussten sie flüchten? Was war geschehen? Seine Familie – nur seine Eltern, oder hatte er noch Geschwister gehabt? Wie hatte er die Flucht erlebt, wie überlebt, offensichtlich als Einziger? Wer waren seine Eltern gewesen? Wie war er von dort nach Surya Mahal gelangt, wo er ein Jahrzehnt seines Lebens verbracht hatte, und aus dem Herzen Rajputanas hierher, nach Darjeeling? Er hatte erzählt, dass sie sehr einfach gelebt hatten, als er Kind war – woher hatte er das Kapital gehabt, das Land für den Teegarten zu erwerben? Je länger sie nachdachte, desto rätselhafter erschien ihr Ian, und umso
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