Himmel über Darjeeling
dann mit einem Darlehen nach dem Sezessionskrieg seine erste Fabrik zu gründen, zurück an der Ostküste, von wo aus seine Geschäfte immer weiter expandierten, in Stahl, mit Spinnereien, Schleifereien, Immobilien.
Es war eine fremde Welt, die er ihr in Worten und Gesten eröffnete, an diesem Tag, am nächsten und an jenen, die darauf folgten, während sie zu Pferd die Hügel über dem Tal erklommen, zu Fuß über die Wiesen streiften, müßig in der Sonne saßen. Helena lauschte und staunte, als sie ihm zuhörte, die Straßen und Häuser und Menschen vor sich sah, die Landschaften und Städte, die in nichts dem glichen, was sie bisher gesehen hatte. Sie wagte es anfangs kaum, von sich zu erzählen: woher sie kam, was sie gesehen, erlebt hatte. Ihr eigenes Leben und ihre Welt kamen ihr so klein und unbedeutend vor. Doch Richard blieb hartnäckig, ließ keine Gelegenheit aus, ihr Fragen zu stellen, hörte geduldig und aufmerksam zu.
»Wo haben Sie so gut reiten gelernt?«, fragte er sie, als sie abstiegen, atemlos nach dem raschen Ritt über eine blühende Wiese. Helena wand Shaktis Zügel um den rissigen Ast eines Baumes, an dem die blattlosen Stängel einer rosafarben blühenden Orchidee emporkrochen.
»Auf einem Esel.«
Richard hob fragend die Augenbrauen, und Helena quittierte seinen erstaunten Blick mit einem Lachen.
»Mein Vater hat mich auf einen Esel gesetzt, als ich noch ganz klein war. In Griechenland gab es fast nur Esel als Reit- und Lasttiere, und aus einer Laune heraus setzte er mich darauf. Ich glaube, das ist meine früheste Erinnerung an ihn: wie er mich auf den Esel hebt und meine Hand hält, während das Tier unbeirrt weiter über das Pflaster trottete.«
»Und Sie hatten keine Angst?« Richard schlüpfte aus seinem Rock und hängte ihn lässig über die Schulter, während sie gemütlich durch das hohe Gras schlenderten. Helena schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Vater war ja da. Ich war mir immer sicher, mir würde nichts geschehen, solange er in meiner Nähe war.«
Richard schwieg und verfolgte mit den Augen aufmerksam jeden seiner Stiefelschritte.
»Es muss herrlich gewesen sein, so aufzuwachsen«, sagte er nach einer kleinen Pause bedächtig, »so frei und ungezwungen, unter südlicher Sonne.«
Helena nickte. Sie bückte sich nach einer der Blumen, die ihre gelben und orangefarbenen Köpfchen über das Gras hinausstreckten und im Wind sachte nickten, pflückte sie ab, drehte sie zwischen den Fingern hin und her.
»Das war es.« Mit einem tiefen Ausatmen sah sie in den blauen Himmel, der von zarten Wolkenschlieren überzogen war. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so schnell vorbei gewesen.«
Mit Wehmut dachte sie daran, dass auch ihre Zeit mit Richard sich unwiderruflich dem Ende entgegenneigte – jeden Tag war nun mit Ians Rückkehr zu rechnen, und auch wenn es keiner von beiden aussprach, so spürte sie doch, dass Richard sich dessen ebenfalls bewusst war. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde, Richard nicht wiederzusehen – die Stunden mit ihm waren etwas, das nur ihr alleine gehörte, über das nur sie bestimmte. Es schien ihr unerträglich, es wieder hergeben zu müssen, dieses Gefühl von Freiheit, von Leichtigkeit und Sorglosigkeit, an das sie sich nur allzu schnell gewöhnt hatte.
»Ist es nicht immer grausam«, drang Richards Stimme leise zu ihr, »wenn die Kindheit ein abruptes Ende findet, die Zeit der Unschuld – wenn man aus einem Traum gerissen wird, den man für real gehalten hat?«
Helenas Blick wanderte rastlos über die Landschaft; sie vermied es, Richard anzusehen, weil sie fürchtete, die Tränen nicht mehr zurückhalten zu können, als sie sagte: »Manchmal glaube ich, ich bin dazu verdammt, für all die Sünden zu bezahlen, die meine Eltern begangen haben. Ihre Sünden gegen die Schicklichkeit, gegen die Gesellschaft, gegen Konvention und Moral.« Sie lachte bitter auf. »Ist es nicht das, was unter Erbsünde zu verstehen ist?«
»So dürfen Sie nicht denken«, setzte Richard rasch an, doch Helena unterbrach ihn, und zornige Tränen rannen jetzt aus ihren Augen.
»So ist es aber doch – so war es immer! Ich hatte nie eine Wahl!«
Heftig wandte sie sich ab, wütend über ihren Gefühlsausbruch, ihre Schwäche, ihre Machtlosigkeit. Achtlos ließ Richard seinen Rock ins Gras fallen, nahm sie bei der Hand und zog sie ebenso sanft wie bestimmt an sich.
»Doch, die hast du. Komm mit mir, Helena!«
Sie sah ihn nur an, erschrocken über diese
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