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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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für sie so überraschende Wendung, als er sie im Arm hielt, mit der freien Hand vorsichtig ihre Tränen wegwischte, sah, wie sein hartes, kantiges Gesicht weich wurde, sah die Wärme in seinen Augen. »Du musst nicht hier bleiben – nicht bei ihm . Es gibt so vieles auf dieser Welt, was ich dir gerne zeigen möchte, was ich mit dir erleben will.« Sie ließ es zu, dass er sie an sich drückte, seine Lippen auf ihrer Wange die Worte nachzeichneten, die er sprach. »Komm mit mir, und ich verspreche dir, dass alles gut werden wird.«
    »Ich – ich kann nicht«, brachte Helena mühsam hervor und spürte, wie dennoch, gegen ihren Willen, jeglicher Widerstand in ihr zusammenbrach, sie sich an Richard schmiegte, seine breite Brust, die so tröstlich schien und solche Sicherheit versprach.
    »Doch, du kannst«, murmelte Richard gegen ihre Haut. »Niemand kann dich zwingen, hier zu bleiben. Komm mit mir nach Amerika, nach Australien – wohin du willst. Ich werde dich nie zu etwas zwingen, nie etwas von dir fordern. Ich will nur, dass du endlich glücklich wirst. Du bist keine Frau, die zum Leiden geboren ist.«
    Es waren diese Worte, die sie sich immer von Ian ersehnt und nie zu hören bekommen hatte, dieses Gefühl von Nähe, das ihr bisher versagt geblieben war, die ihre Lippen die seinen suchen ließen.
    Seine Küsse hatten nichts von der verzehrenden Leidenschaft Ians; sie waren wie er, beständig, tröstend, erfüllend, und Helena wünschte, dieser Moment würde ewig dauern. Als sie sich doch voneinander lösten, drückte er sie an sich und lachte leise auf.
    »Am liebsten hätte ich dich damals auf der Stelle mitgenommen, gleich fortgeholt von diesem grässlichen Ball.« Er legte seine Hand an ihre Wange und bog ihren Kopf sanft zurück, bis er ihr in die Augen blicken konnte, fest und zärtlich zugleich. »Du musst nichts übereilen. Ich bleibe in Darjeeling, bis du dich entschieden hast. Ich werde auf dich warten, Helena.«
    » Huzoor erwartet Sie in seinem Zimmer, Memsahib.«
    » Shukriya , danke, sag ihm, ich komme gleich«, antwortete Helena dem Mädchen mechanisch, sah kaum hin, als es sich mit einem Knicks zurückzog und die Tür leise schloss.
    Ihr war heiß und kalt zugleich, als sie in den Spiegel ihres Frisiertisches starrte, und das Bild, das er zurückwarf, war ihr fremd, obwohl sie sich darin wiedererkannte, den rotorangenen Sari, ihr Haar, das durch eine blütenduftende Pomade in geschmeidigen Wellen den Rücken herabfloss, die großen blaugrünen Augen in ihrem goldgetönten Gesicht, dunkel im Licht der Lampen, und doch mit einem neuen, ungewohnten Brennen darin.
    Seit der Lärm und der Aufruhr im Haus, die Stimmen und das Gelächter heute Nachmittag nach beinahe zwei Wochen Ians und Mohan Tajids Rückkehr aus Kalkutta verkündet hatten, hatte sie diesen Moment zu vermeiden gesucht, doch nun, am späten Abend, gab es keine Ausflüchte mehr. Eher aus schlechtem Gewissen heraus als aus echter Willkommensfreude hatte sie eines der Mädchen beauftragt, in der Küche gebratenes Lamm und masala bata zubereiten zu lassen, und immer wieder wanderte ihr Blick zu der Schachtel auf dem Hocker unter dem Fenster, in der, eingeschlagen in dünnes Seidenpapier, die Weste lag, die sie von den Wangs für Ian hatte anfertigen lassen und die in seiner Abwesenheit geliefert worden war. Doch sie hatte keine Freude mehr daran gehabt. Die Schönheit des Stoffes, seine schimmernde Glätte und die satten Farben hatten ihren Reiz verloren, erinnerten sie nur an Dinge, die sie aus ihrem Bewusstsein zu verdrängen suchte.
    Hatte sie etwas Unrechtes getan? Sie wusste es nicht. Es schien, als hätte sie in der vergangenen Woche jegliches Empfinden für Recht oder Unrecht, für Richtig oder Falsch verloren. Gestern erst war es gewesen, dass sie sich von Richard verabschiedet hatte, oben am Kreuzweg, wo sie nach links abgebogen war, in Richtung der Plantage, er nach rechts, hinab ins Tal, nach Darjeeling – wo er sie ein letztes Mal geküsst, ihr das Versprechen abgenommen hatte, ihm eine Nachricht in sein Hotel zu schicken, wann immer sie ihn brauchen sollte. Ihr graute davor, Ian unter die Augen zu treten. Es waren nicht Richards Küsse, sondern die Gedanken an ein neues Leben ohne Ian, die sie sich so schuldig fühlen ließen. Die Gedanken, die sie nun seit zwei Tagen ruhelos umhertrieben, keine Minute mehr still sitzen ließen. Würde sie wirklich in der Lage sein, Ian zu verlassen, Indien für immer den Rücken zu kehren?

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