Himmel über Darjeeling
verwirrter fühlte sie sich. Sich im Haus nach ihm zu erkundigen, das wagte sie nicht; sie fürchtete, ihr Gesicht zu verlieren, wenn sie zugab, so gut wie nichts über den Mann zu wissen, den sie geheiratet hatte – genauso wenig wie sie wagte, Ian selbst danach zu fragen. Einmal jedoch, kurz vor ihrer Abreise, hatte sie Mohan Tajid gebeten, ihr von Ians Familie zu erzählen, eines Abends im Salon, als sie alleine waren. Ein Schatten war über sein Gesicht geglitten, und Helena konnte nicht sagen, ob es ein Schatten des Ärgers oder des Kummers gewesen war.
»Das sollte er Ihnen selbst erzählen«, hatte er rau geantwortet, ehe er mit steinerner Miene wieder in das Kaminfeuer starrte und Helena begriff, dass sie von ihm kein weiteres Wort dahingehend erwarten konnte. Das widersprach so sehr seiner sonstigen Bereitschaft, ihr in Wort oder Tat zu helfen, wo er nur konnte, dass sie darüber eher erstaunt denn verärgert gewesen war.
Rajiv, das Chamäleon, so haben dich die Kinder damals genannt … Helena schien es, als gäbe es Menschen in Ians Umgebung, die wussten, woher er kam, wer er war, und doch schien niemand bereit, ihr davon zu erzählen. Weshalb? Fast schien es, als verbärge er ein Geheimnis, das nicht ans Licht kommen durfte – und dass sie als seine Frau davon ausgeschlossen war, schmerzte sie.
Vielleicht hatte sie sich deshalb, aus einer Art Trotz heraus und wider besseres Wissen, so rasch dazu bereit erklärt, Richard Carter die Gegend um Darjeeling zu zeigen, auch wenn sie einen Anflug von Gewissensbissen dabei gespürt hatte. Sein überraschender, unangekündigter Besuch am Nachmittag hatte sie noch weiter in ein Gefühl der Verwirrung, des Rätselns gestürzt. Was suchte er hier? Dass ihn nicht wirklich Geschäfte zu dieser Reise bewegt hatten, hatte sie aus seiner Stimme herausgehört. Doch der Gedanke, er sei ihretwegen hier – dieser Gedanke erschien ihr zu abwegig, als dass sie ihn weiterverfolgen wollte.
Wie von selbst waren ihre Finger von der Armlehne des Stuhls hinabgeglitten, zeichneten die ziselierten Muster des Schubladenknaufs nach, umfassten ihn, zogen im Rhythmus ihrer Gedanken die Schublade auf, schlossen sie wieder. Auf und wieder zu. Helena hielt inne und zögerte einen Augenblick, ehe sie langsam die Schublade so weit aufzog, dass sie einen Blick hineinwerfen konnte. Vorsichtig nahm sie die lederne Mappe heraus, blätterte die versteiften Fächer durch, in denen Briefe in Ians steiler Handschrift lagen, doch sie schienen nur Korrespondenz zu enthalten, die sich um Teeanbau und Teehandel drehte. Sie legte sie zurück und nahm sich die nächste Schublade vor, arbeitete sich durch den gesamten Schreibtisch, klopfte mit den Fingerknöcheln vorsichtig gegen Seitenwände und Böden auf der Suche nach einem Geheimfach, tastete nach einem Gegenstand, der ihren Augen im schlechten Licht vielleicht im ersten Moment entgangen sein konnte. Erst als sie die letzte Schublade wieder geschlossen hatte, durchzog sie eine heiße Scham. Was tat sie hier? Natürlich war Ian zu schlau, um irgendetwas, das Hinweise auf sein so gut gehütetes Geheimnis enthalten konnte, so offen und zugänglich aufzubewahren.
Sie schämte sich für ihre Neugierde, und doch konnte sie sie nicht bezähmen. Leise, als fürchtete sie, jemanden im Haus zu wecken, erhob sie sich und nahm die Lampe, ließ deren Schein über die Umrisse des Zimmers gleiten. Sie ging die Wände entlang, hob jedes der Bilder – geschmackvolle Szenen aus der indischen Geschichte und ihrer Götterwelt und eine Ansicht des Kanchenjunga in Öl – kurz an, ob sich darunter vielleicht ein Safe verbergen mochte. Nichts. In ihrer Enttäuschung hätte Helena am liebsten mit dem Fuß aufgestampft und laut geflucht. Sie musste doch etwas finden – es konnte doch nicht sein, dass es nichts gab, was ihr wenigstens einen winzigen Hinweis liefern konnte, eine Andeutung!
Entschlossen eilte sie in langen Schritten die schwach beleuchtete Treppe hinauf. Vor der Tür zu Ians Schlafzimmer hielt sie einen Moment inne, ließ für einen Moment ihr Gewissen mit ihrer Versuchung ringen, und stürmische Wissbegier trug einen leicht errungenen Sieg davon.
Sie leuchtete sich den Weg zu der Kommode auf der rechten Seite, wo sie die Lampe abstellte und höher drehte, ehe sie sich umsah. Oft war sie an der geöffneten Zimmertür vorbeigekommen und hatte nie mehr als einen flüchtigen Blick hinein gewagt, als sei es verbotenes Terrain, und wie ein Eindringling
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