Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
Vom Netzwerk:
konnten sie die Morgensonne in den übermütig über die Steine hinwegsprudelnden Bächen aufglitzern sehen. Einzelne erdfarbene Vögel begleiteten sie zwitschernd, ließen sich in sicherer Entfernung nieder, flogen mit lautem Flügelschlag erschrocken wieder auf. Zwischen den Felsen und Hängen eingebettet, erstreckten sich gesäumt von Nadelwäldern die sattgrünen Teefelder, menschenleer jetzt, wo es nichts mehr zu tun gab, bis der Monsun darauf hinabregnen und erneut Triebe hervorschießen lassen würde. Sie sprachen kaum miteinander, auch weil der schmale Weg ihnen oft nur erlaubte, hintereinander zu reiten. Schließlich hatten sie ihr Ziel erreicht, den höchsten Punkt im Süden, den Tiger Hill. Unter ihnen lag die Stadt, aus getünchtem Stein und dunklem Holz, und die Bäume dazwischen wirkten wie flockige Moospolster. Dahinter, über die gesamte Breite des Horizonts, stand die Wand des Himalaya, nackt und karstig, mit bläulichen und grauvioletten Furchen und Abhängen.
    Helena wies auf die Gipfel, die sich gerade noch hinter dem dichten Wolkenschleier erahnen ließen, von dem sich beständig einzelne Fetzchen ablösten und zu ihnen herüber zogen.
    »Das dort ist der Kanchenjunga. Der Legende nach ist es der heilige Berg Kailash, hinter dem sich das Paradies Shivas verbirgt.«
    »Hier scheint jeder einzelne Stein von Göttern geprägt zu sein«, murmelte Richard nachdenklich, seine vorspringenden Brauen zusammengezogen, als er seinen Blick über den schrundigen Gebirgsleib schweifen ließ. »Indien ist so ein altes Land, auf dem unzählige Völker und Kulturen ihre Hand- und Fußabdrücke hinterlassen haben, seit mehreren Jahrtausenden. – Das habe ich irgendwo gelesen«, fügte er hastig hinzu, als er Helenas verblüfften Seitenblick auffing.
    »Amerika ist nicht so?«
    Richard schüttelte den Kopf. »Amerika ist ein neues, ein ursprüngliches Land, leer und weit. Was es dort gibt, ist meist nur wenige Jahrzehnte alt, und das Tempo, in dem die Städte wachsen, ist enorm. Das Land vibriert vor Energie, als könnte es kaum abwarten, den nächsten Schritt vorwärts zu machen. Dort gibt es kein Gestern, kaum eine Gegenwart, nur Gedanken an die Zukunft – Visionen von dem, was möglich ist, möglich sein könnte . Und dort scheint einfach alles möglich zu sein, scheinen dem Streben nach vorne und nach oben keine Grenzen gesetzt.«
    Mit begeisterten Worten berichtete er von New York, der »größten und wunderbarsten Stadt im ganzen Land«, wie in einem Stadtführer dafür geworben worden war, einer Stadt, die nahezu zwei Millionen Einwohner zählte – vom großflächigen Central Park mit seinem künstlichen See, wo man sich sonntags zum Flanieren traf; von der vor fünf Jahren eröffneten ersten Linie der Metropolitan Elevated Railway, einer Bahnlinie innerhalb der Stadt, in der die Züge auf Gleisen in Höhe des zweiten Stockwerks fuhren; von der Brooklyn Bridge, dem Wunderwerk der Architektur, die den East River überspannen und so die Stadtteile Brooklyn und Manhattan miteinander verbinden sollte – die Pfeiler dazu waren siebenmal höher als die zumeist vierstöckigen Häuser Manhattans, und die Hängebrücke selbst, die dieses Jahr an Stahltrossen aufgehängt werden würde, würde eine Distanz von fast einer halben Meile überbrücken. Er schwärmte vom Broadway, dem kommerziellen Rückgrat der Stadt, von Kaufhäusern wie Macy’s, das größtenteils aus verziertem Gusseisen erbaut worden war und in dem es unter einem einzigen Dach nahezu alles Erdenkliche zu kaufen gab.
    Er beschrieb San Francisco, noch sehr viel kleiner als New York, aber deshalb nicht minder ehrgeizig und aufstrebend; die Hügel Kaliforniens, seine endlosen Sandstrände, die Weinberge und Obsthaine; die Weite im Inneren des Landes, die raue Schönheit der Prärie mit ihren wilden Mustangs und Büffeln, die nur darauf wartete, erschlossen und besiedelt zu werden, sobald drei neue Bahnlinien von Osten nach Westen fertig gestellt sein würden.
    Er erzählte von Australien, dem roten, dürren Kontinent, aus dem er Steine importierte; von den eleganten Prachtstraßen in Paris, der mondänen Stadt mit ihren Cafés, Bars, Theatern und Nachtclubs, und auch von dem Eisenwerk in Philadelphia, in dem er zu arbeiten begonnen hatte, ehe er sich an die Westküste aufgemacht hatte, sein Glück zu suchen, es beim mühseligen Schürfen von Erzen fand. Sein Gewinn daraus hatte es ihm ermöglicht, sein erstes Geschäft zu eröffnen, sein nächstes,

Weitere Kostenlose Bücher