Himmel über Darjeeling
Konnte sie tatsächlich noch einmal in ein fremdes Land gehen, noch einmal von vorn anfangen, mit einem anderen Mann? Sie war so müde, ihr Herz wund von all dem Aufruhr, all den Gefühlen, die ständig im Widerstreit miteinander lagen, und sie sehnte sich nach nichts mehr als Ruhe – dieser Ruhe, die sie in Richards Nähe empfand. Er war so ganz anders als Ian; geradlinig, direkt, ohne finstere Abgründe, ohne die Zerrissenheit, die Helena in Ians Gegenwart immer in einen Strudel von Extremen stürzte. Doch der quälendste Gedanke, den sie immer wieder beiseite schob und der doch ungebeten immer wieder auftauchte, galt Jason: Würde sie es ihm zumuten können, sein junges Leben noch einmal gänzlich auf den Kopf stellen zu lassen, sich an ein neues Land, eine neue Familie zu gewöhnen? Helena fühlte sich elend angesichts der Entscheidung, die sie zu treffen gezwungen war. Was war richtig, was war falsch? Sie wusste es nicht, und in diesem Augenblick fühlte sie sich wie eine alte Frau.
Widerstrebend erhob sie sich und drehte die Lampen herunter. Irgendwo am nächtlichen Himmel leuchtete es mehrfach kurz auf, verriet die in der Dunkelheit verborgenen Wolken, die seit gestern am Horizont zu sehen waren – erste Vorboten der von Süden heraufziehenden Regenzeit, die die Tage schwüler und die Nächte milder machte. Die wenigen Schritte von Tür zu Tür schienen ihr endlos, und ihre Füße waren schwer wie Blei.
Regungslos saß Ian in einem Sessel vor dem Kamin, die Beine in polierten Reitstiefeln auf einem Hocker ausgestreckt, und starrte in die Flammen. Unbeweglich verharrte Helena an der Tür, unsicher, wie sie sich verhalten sollte.
»Guten Abend, Ian«, brachte sie schließlich hervor. »Hattet ihr eine gute Reise?« Ihre Worte klangen ihr selbst unerträglich falsch in den Ohren.
»Danke«, antwortete Ian schneidend, und die Eiseskälte, die ihr entgegenschlug, nahm ihr den Atem. Das war es, wovor sie sich in den Wochen der Ernte gefürchtet hatte: vor diesem abrupten Umschlagen der Stimmung, das sie so oft erlebt hatte und dem sie sich nie gewachsen gefühlt hatte. Mühsam bekämpfte sie das Zittern, das sie in sich aufsteigen spürte.
»Wie ich gehört habe, hast du dich in meiner Abwesenheit glänzend amüsiert«, setzte er hinzu und zündete sich eine Zigarette an. »Musstest du mir vor den Augen des gesamten Hauses und des halben Tales Hörner aufsetzen?« Seine Worte trafen sie wie ein Peitschenhieb.
»Ich habe nichts Unrechtes getan«, suchte sie sich zu verteidigen und wusste doch, dass es vergeblich sein würde. Wie naiv sie gewesen war – als hätte ihre ständige Abwesenheit im Haus unbemerkt bleiben können! Selbst das einfachste Dienstmädchen wäre imstande gewesen, nach dem Besuch des fremden Sahibs und den sich immer weiter ausdehnenden Ausritten der Memsahib eins und eins zusammenzuzählen.
Blitzartig sprang er auf, warf die angerauchte Zigarette in den Kamin und packte sie so hart am Arm, dass ihr ein Schmerzenslaut entfuhr und ihr Tränen in die Augen schossen. »Ian …«
»Wenn du mich schon zum Hahnrei machen musst, dann tu es nicht in meinem Haus, nicht auf meinem Land – wahr zumindest so weit den Anstand«, presste er zwischen den Zähnen hervor und packte noch fester zu. Er machte eine schnelle Bewegung, und sie duckte sich, doch der erwartete Schlag blieb aus.
Vorsichtig blinzelte sie unter den Tränen zu ihm herauf. Er sah sie nur an, ohne seinen Griff zu lockern, und die Schwärze in seinen Augen, der entsetzliche Abgrund, in den sie blickte, machte ihr Angst, solche Angst, wie sie sie noch nie gekannt hatte.
»Lass mich los«, wisperte sie heiser, in dem halbherzigen Versuch, sich aus seiner Umklammerung zu befreien.
Er riss sie an sich, dass sie keine Luft mehr bekam, und zusammen mit einem Laut des Erschreckens und der Angst entfuhr ihr ein Seufzer der Erleichterung, der erfüllten Sehnsucht, als er hart seine Lippen auf die ihren presste, schmerzhaft und köstlich zugleich. Grob fuhren seine Hände über ihren Körper, taten ihr weh und weckten doch eine ungeheure, flammende Lust in ihr, die sie aufstöhnen ließ, sich ihm entgegendrängen und ihn gleichzeitig von sich stoßen ließ, voller Begierde und Hass und Verzweiflung.
»Du bist mein, Helena, mein«, flüsterte er rau, brannte die Worte mit seinen Lippen, seinem Atem auf ihren Hals, ihre Haut, hinterließ Male mit seinen Zähnen. Die dünne Seide des Saris riss, und ihre glühende Haut traf auf die Hitze
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