Himmel über Darjeeling
beiden Männer, »wie weit kann es noch sein, Winston-Sahib?«
Der junge Engländer wischte sich mit dem Handrücken über sein sonnenverbranntes Gesicht, das vor Schweiß troff. Das einstmals weiße Hemd klebte durchnässt und schrundig von festgebackenem Sand an seinem massiven, muskulösen Oberkörper.
»Ich weiß es nicht, Bábú Sa’íd. Nach unseren Anweisungen müssten wir längst da sein. Diese gottverdammte Wüste!« Laut fluchend ruckte er am Zügel und ließ seinen dunklen Wallach einen Halbkreis beschreiben, während er mit zusammengekniffenen Augen die langgezogenen Tafelberge und den Horizont absuchte. Er hätte nicht geahnt, dass die Wegbeschreibung seines vorgesetzten Offiziers derart ungenau sein würde, obwohl er wusste, dass dieser Teil Rajputanas nur unzureichend kartographiert war. Schon vor Tagen hatten sie den britischen Machtbereich verlassen, die Grenzen zu einem jener Fürstentümer überschritten, die sich noch immer in passivem Widerstand der Fremdherrschaft der Engländer entzogen.
»Was sollen wir jetzt tun, Sahib?« Bábú Sa’íd hatte seinen schmutzig grauen Wallach zum Stehen gebracht und sah seinen Herrn hilfesuchend an, die beinahe schwarzen Augen matt in dem dunklen, sonnengegerbten Gesicht, gegen das der schlohweiße Schnurrbart grell abstach.
Winstons Pferd senkte erschöpft den Kopf und begann, halbherzig mit dem Vorderhuf im Geröll zu scharren, während sein Reiter stumm den Blick durch die feindliche Einöde schweifen ließ.
Er war kein schöner Mann. Ungewöhnlich groß und von massiger Gestalt, seine Haut eher blass mit einem rötlichen Unterton, der sich im Kupferschimmer seines blonden Haares widerspiegelte – das Erbe seiner normannischen Vorfahren. Die hellblauen, grau gesprenkelten Augen schienen naiv, beinahe kindlich in die Welt hinaus zu blicken; dahinter verbarg sich jedoch ein messerscharfer Verstand. Sein entgegen der Mode glatt rasiertes Gesicht war eine kuriose Mischung aus weichen Zügen und starkknochigen Partien und ließ ihn jünger wirken als seine siebenundzwanzig Jahre. Wer ihn nicht in Bewegung sah, mochte ihn für einen groben, ungeschlachten Gesellen mit einem Hang zu Müßiggang und Trägheit halten, doch war jeder Zoll seines Körpers durchtrainiert, verlieh ihm die kraftvolle Geschmeidigkeit eines Tieres und ließ ihn sich allein durch seine physische Erscheinung Respekt
verschaffen.
Bábú Sa’íd kannte den angespannten Gesichtsausdruck seines Herrn, der sich in einem zuckenden Muskel entlang seines massiven Kiefergelenks entlud und signalisierte, dass er angestrengt nachdachte. Er wusste, dass er besser daran tat, so lange zu schweigen.
»Vorwärts«, stieß Winston endlich hervor und riss so energisch an den Zügeln, dass sich sein Wallach erschrocken aufbäumte, »wir werden diesen verfluchten Palast finden, und wenn wir jeden Stein hier einzeln umdrehen müssen!« Entschlossen jagte er so schnell davon, dass Bábú Sa’íd sich beeilen musste, ihm zu folgen.
Während die Sonne Stunde um Stunde weiter auf sie herabbrannte, ihre Wangen glühen und Ströme von Schweiß über Rücken und Arme rinnen ließ, schloss Winston für einen Augenblick die Augen und spürte Edwinas kühle Wange, die sich an die seine schmiegte. Er roch ihren zarten Duft nach Maiglöckchen, sehnte sich nach den gestohlenen Küssen draußen im Garten der Graysons; Küsse, die nach Erdbeeren schmeckten und ihn hungrig zurückließen, wenn sie mit verlegenem Kichern und raschelnden Röcken zurück in den Schutz des Hauses rannte. Edwina, die einzige Tochter von Colonel Grayson, mit einer Haut wie Sahne, lavendelblauen Augen unter kastanienbraunen Locken und einer Taille, so schmal in ihrem Mieder über der Krinoline, dass er sie mit seinen Händen locker umfassen konnte. Quecksilbrig, kapriziös, leichtfüßig, hatte sie ihn mit dem kecken Funkeln in ihren Augen und ihrer glockenhellen Stimme betört, unter den wohlwollenden Augen des Colonels und seiner Gattin, die Gefallen gefunden hatten an dem ebenso verlässlichen wie ehrgeizigen jungen Soldaten, der zwar nur der jüngere Sohn einer verarmten Familie des Landadels von Yorkshire war, seine Herkunft aber nahezu lückenlos bis in die Zeit der Rosenkriege zurückverfolgen konnte.
»Sahib«, riss ihn die aufgeregte Stimme Bábú Sa’íds aus seinen Gedanken, und er zügelte sein Pferd.
Vor ihnen brach der Boden schroff ab, stürzte in einer langgezogenen Böschung in ein weites, leeres Tal hinab, in dessen
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