Himmel über Darjeeling
Mitte sich wie von der Hand eines Magiers erschaffen die Mauern eines Palastes erhoben. Grell warf der Sand das Sonnenlicht zurück, und die Zinnen und Türme schienen von einer flammenden Aureole umgeben zu sein.
Beinahe zwei Jahre waren Winston und Edwina nun verlobt, heimlich, und der Colonel hatte ihm ihre Hand versprochen, sobald er eine weitere Stufe auf der Karriereleiter erklommen hatte. Und die diplomatische Mission, auf der er hierher entsandt worden war, würde mit Sicherheit eine Beförderung bedeuten, sollte sie erfolgreich sein. Dennoch zögerte er.
Als spürte der Wallach seine Unentschlossenheit, tänzelte er unruhig von einem Huf auf den anderen, und auch Bábú Sa’íd sah ihn abwartend an. Winston schluckte, seine Kehle war trocken, und er wusste, dass es nicht nur am stundenlangen Ritt durch Staub und Stein und Hitze lag. Sein Instinkt riet ihm umzukehren, doch er wusste, dass es unmöglich, und auch, dass das, was ihn dort unten erwartete, unausweichlich war.
Mit dem nächsten Wimpernschlag gab er dem Wallach die Sporen und setzte die Böschung hinab, die Mauern von Surya Mahal fest im Blick.
Wie Bittsteller hatten sie vor dem mächtigen Tor gestanden, der kräftige junge Engländer und der kleine, schmächtige sepoy , verschwitzt, schmutzig, müde und bar des Glanzes ihrer Uniformröcke des militärischen Arms der East India Company, die sie hinter sich in ihrem Gepäck hatten. Wie Bettlern gewährten die herablassend blickenden Rajputenwächter ihnen nur widerwillig und nur unter Abgabe sämtlicher Waffen Eintritt. Traurig verzog sich Bábú Sa’íds zerfurchtes Gesicht, als sie ihre Pistolen und seine heiß geliebte Brown-Bess-Muskete den Rajputen aushändigen mussten.
Dennoch wurde ihnen die legendäre Gastfreundschaft der Rajputen zuteil: Ihre Zimmer waren groß und prächtig ausgestattet, und etliche dienstbare Geister waren eilfertig darum bemüht, für ihr leibliches Wohl zu sorgen. Gebadet, rasiert und tadellos in Uniform hatte Winston sofort um eine Audienz beim Raja ersucht, doch nun waren bereits zwei Tage und Nächte vergangen, ohne dass er eine Antwort erhalten hatte. Weder der Haushofmeister selbst noch irgendein anderer der Dienstboten konnte ihm sagen, wie lange es noch dauern würde, bis er den Fürsten sehen konnte. Auf jedes Nachfragen erhielt er ein bedauerndes Achselzucken und stets dieselben Formulierungen in höflichstem Hindustani. Winston tobte innerlich. Die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt, tigerte er unablässig in seinen spiegelnden Reiterstiefeln, die Bábú Sa’íd nun wohl schon an die zwanzig Mal poliert hatte, zwischen dem Bett und den weit geöffneten Türen zum gepflasterten Innenhof hin und her. Eine warme, dennoch angenehme Brise strich beständig durch den Raum, bauschte die zarten bodenlangen Vorhänge, doch kühlte sie kaum seinen Zorn ab über die Herablassung, mit der der Raja sie als Abgesandte der Krone warten ließ. Bábú Sa’íd hatte sich im Schneidersitz und mit kerzengeradem Rücken auf einem der dicken Polster niedergelassen und schien mit geschlossenen Augen in einen Dämmerzustand gefallen zu sein.
Winston blieb an der Schwelle zum Innenhof stehen und starrte hinaus, seine blassen Augenbrauen verärgert zusammengezogen, doch er nahm die kostbaren Schnitzereien der Säulen und Mauerzinnen kaum wahr, ebenso wenig wie die blau-weiß bemalten Kübel mit blühenden Sträuchern oder den Pfau, der über die glatten, hellen Steine stolzierte und ihn gefallsüchtig anschielte, ehe er ob Winstons Nichtbeachtung den blau schillernden Kopf verächtlich abwandte.
Sechs Jahre war es nun her, dass er sich für die Armee hatte anwerben lassen und indischen Boden betreten hatte. Eine Laufbahn im Militärdienst der East India Company versprach ordentliche Bezahlung, besser als in der Armee der Königin selbst, und die Chance, mit Ehrgeiz, Gehorsam, Intelligenz und dem nötigen Quäntchen an guten Beziehungen in Indien sein Glück zu machen. Jeder kannte die Geschichten oder bekam sie spätestens in seinen ersten Wochen in der Kaserne zu hören: von den einfachen Soldaten, die es geschafft hatten, von den unermesslichen Reichtümern des Subkontinentes ihren Teil abzubekommen, zu einem der sagenhaften Nabobs zu werden. Und Winston war ehrgeizig; sein Leben lang hatte er sich dafür geschämt, zwar nobles, altes Blut in seinen Adern fließen zu wissen, aber arm zu sein. Er wusste, dass er es schaffen konnte: Hoch dekoriert und vermögend
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