Himmel über Darjeeling
allzu bald die Gerüchte, dass der Raja eine hohe Belohnung für die Ergreifung des feringhi -Soldaten ausgesetzt hatte, der nicht nur den Clan entehrt, sondern auch des Rajas Leib und Leben bedroht hatte, zusammen mit seinem abtrünnigen Sohn und der treulosen Tochter. Schließlich standen eines Tages zwei schwer bewaffnete Rajputenkrieger im Laden, deren Aura von Ehre und Macht nicht einmal dadurch getrübt wurde, dass die Uniformen ihnen nass an den muskulösen Körpern klebten und feine Rinnsale Regenwassers aus dem voll gesogenen Stoff der Turbane über ihre Gesichter liefen.
»Heda, Schreiber«, herrschte einer der beiden den Inhaber des Ladens an, der gehorsam das Schreibbrett von seinen Knien nahm und sich erhob, während Mohan sich tiefer über das seine beugte. Sein Herz hämmerte ihm schmerzhaft gegen die Rippen, und er versuchte vergeblich, die Zeilen der Abschrift, die er eben anfertigte, im Blick zu behalten.
»Hast du etwas von einem feringhi -Soldaten gehört, der hier durchgekommen ist?«
»Ein feringhi ? Ihr sucht einen feringhi ?« Die Stimme Anwars, des Schreibers, überschlug sich fast, als er sich in ekstatischem Gezeter die Brille von der Nase riss und dem Rajputenhauptmann damit vor dem Gesicht herumfuchtelte. »Da, er, mein Gehilfe«, er zeigte auf Mohan, der nicht von dem Brief aufsah, an dem er gerade schrieb, »er ist von einem dieser Dreckskerle bestohlen worden! Alles weg, nur die Kleider, die er am Leibe trug, hat dieser Halunke ihm gelassen! Auf und davon ist er damit, über alle Berge, mit allem, was mein Gehilfe besaß, und das war nicht viel, kein Schreiber bringt es je zu Reichtum! Die Zeiten werden immer schlechter, die Leute wollen nichts mehr bezahlen, sind nie zufrieden mit der Arbeit, die man sich macht, streiten und handeln um jede Zeile, jeden Buchstaben, und dann kommt noch so ein Schurke des Weges! Als wären die Zeiten nicht schon hart genug, nirgendwo ist man mehr sicher! Früher, als ich noch – «
»Lass gut sein, Alter«, winkte einer der beiden Krieger mürrisch ab und bedeutete seinem Kollegen, ihm zu folgen. »Wenn ihr etwas hört, lasst es uns wissen«, warf er müde und wenig überzeugt über seine Schulter hinweg in den Laden, ehe die beiden mit hochzogenen Schultern wieder in den strömenden Regen hinaustraten.
Gelassen setzte Anwar die Nickelbrille wieder auf seine Adlernase, klemmte die Bügel hinter seinen Ohren unter dem gemusterten Turban fest und ließ sich in aller Seelenruhe mit gekreuzten Beinen auf seinem Polster nieder, während Mohan damit kämpfte, seinen Herzschlag wieder in den normalen Rhythmus zu bringen.
»Ihr tut gut daran, die Stadt nach dem Ende des Monsuns so schnell wie möglich zu verlassen, ehe sie euch doch noch finden – Ganesh«, sagte Anwar schließlich in dem nebensächlichen Tonfall, in dem er sich sonst über das Wetter oder das gestrige Abendessen unterhielt. Nur die Art und Weise, wie er den Namen betonte, unter dem sich Mohan ihm vorgestellt hatte – Ganesh, der listige Elefantengott, Sohn Shivas und Parvatis, der Gott des Anfangs, der Unternehmungen, der Reisen und der Gelehrsamkeit, der mit seinem abgebrochenen Stoßzahn die Schlusskapitel des Mahabharata geschrieben hatte –, verriet, dass er die Wahrheit hinter Mohans Komödie kannte oder zumindest erahnte.
Seit er das letzte Mal bei einem seiner Jungenstreiche erwischt worden war, war Mohan nicht mehr derart das Blut ins Gesicht geschossen.
»Wie habt Ihr …« Er schluckte.
Anwar sah ihn mit seinen gütigen Augen über den Rand seiner runden Brillengläser hinweg an.
»Man lernt als Schreiber mit den Jahren eine Menge über das Leben und über Menschen. Ihr habt euch große Mühe gegeben, aber für mein geschultes Auge wart ihr auf Anhieb kein Landarbeiter. Die Schwielen in euren Händen sind die eines Reiters, eure Züge die eines Adligen. Und ich glaube nicht an Zufälle – gleich zwei angeblich ehrlose feringhi innerhalb eines Monats in diesem Viertel, die in Begleitung eines jungen Mannes und einer jungen Frau sind, das erschien mir zu viel.«
Er musste die Furcht in Mohans Augen gesehen haben, denn um seine Augen zeigte sich der zerfurchte Strahlenkranz eines Lächelns.
»Seid unbesorgt: Ich werde euch nicht verraten. Ihr scheint mir ein anständiger junger Mann zu sein, der sich nicht mit Verbrechern abgibt. Ihr werdet eure Gründe für euer Versteckspiel haben, und die gehen mich nichts an. Und eure Täuschung ist wahrlich nahezu perfekt.« Sein
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