Himmel über Darjeeling
geschlagen hat, nicht sterben wird, auch wenn ihn einhundert Pfeile durchbohren, während ein Mann, dessen Zeit gekommen ist, nicht am Leben bleibt, und sei es nur die Spitze eines Grashalms, die ihn berührt. Wir müssen einfach hoffen, dass die Götter mit uns sind, und achtsam bleiben.«
»Reicht dein Verdienst denn, um uns über Wasser zu halten?«, wollte Winston wissen.
Endlich breitete sich das vertraute Grinsen auf Mohans Gesicht aus.
»Sei unbesorgt. In der weisen Voraussicht, dass ich auf gesetzlichem Weg wohl nichts mehr davon sehen würde, habe ich einen kleinen transportablen Teil meines Erbes gleich mitgenommen. Das dürfte für eine Weile reichen.«
Am nächsten Morgen erschütterte lautes Wutgebrüll die kleine Herberge, und die herbeigelaufenen übrigen Gäste und die Familie des bhatiyárá vernahmen voller Mitgefühl, dass der einfache Landarbeiter und seine junge Frau, die stumm und verschüchtert in der Ecke stand, ihr Haupt und den unteren Teil ihres Gesichtes sittsam mit dem Ende ihres bunt bedruckten Baumwollsaris verhüllt, bestohlen worden waren – von jenem feringhi , einem fahnenflüchtigen Soldaten, den die beiden aus Mitleid unterwegs aufgesammelt und in die Stadt mitgenommen hatten und der sich nun mit einem Teil ihrer ohnehin geringen Habe über Nacht aus dem Staub gemacht hatte. Lautstark schimpfend und fluchend lehnte der junge Mann ebenso stolz wie dankbar jegliche Hilfe bei der Suche nach diesem Schurken ab, ebenso wie die zahlreichen Angebote, dem Paar mit Laken, Schüsseln, Bechern oder ein paar Rupien auszuhelfen, was den beiden sofort die Achtung und Zuneigung der gesamten Nachbarschaft sicherte, während man sich auf dem Basar noch tagelang darüber ereiferte, dass den feringhi einfach nicht zu trauen war und man eben doch am besten unter sich blieb.
Die Bündel geschnürt, zog das junge Paar dann unter den Glückwünschen der gesamten Herberge in ihre neue Behausung im Hinterhof des Schreibers, wo Winston sie schon ungeduldig erwartete, seit Mohan Tajid ihn im Schutz der Nacht dorthin geschmuggelt hatte.
Die folgenden beiden Monate, in denen der Himmel über Jaipur unablässig seine Wassermassen über die Dächer und Straßen fließen ließ und die Wüste Rajputanas in einen schlammigen See verwandelte, waren schwer für Winston in seinem Versteck, und er bekam eine Ahnung davon, was Sitara im Turm der Tränen erduldet hatte. Sein Lebensraum war beschränkt auf die fünf mal fünf Schritte des Zimmers, ohne eine Möglichkeit, diese verlassen zu können. Allein Sitaras Gegenwart machte dieses Gefängnis, war es auch zu seinem eigenen Schutz, erträglich. Ihre Nähe, die Zuversicht, die sie ausstrahlte, waren wie unablässiger Sonnenschein in der Düsternis der Tage, und gleichzeitig genoss er die einsame Zweisamkeit ihrer Liebe, den Luxus, sich während Mohans Abwesenheit tagsüber lieben zu können, wann immer sie wollten. Sitaras sich vorsichtig rundender Leib, ihre voller und schwerer werdenden Brüste, ihr in sich ruhendes Glück, ein Kind in sich zu tragen, sein Kind, ließ sie in seinen Augen nur noch begehrenswerter erscheinen, und ihre gemeinsamen Stunden waren voll Zärtlichkeit.
Dass die Frau des Schreibergehilfen sich kaum sehen ließ, erschien den Nachbarn nur natürlich, wurde sogar voller Zufriedenheit als Beweis dafür gesehen, dass Sitara eine selten tugendhafte und gehorsame Ehefrau war. Doch die Angst, entdeckt zu werden, lag wie ein Schatten über jedem Tag, jeder Nacht, ließ sich immer nur kurz beiseite schieben, nie ganz vergessen, wurde ein Teil ihres Alltags, ihrer sämtlichen Gedanken und Handlungen.
Mohan Tajid genoss das einfache Leben als Gehilfe des Schreibers, das ihm so viel mehr Vergnügen bereitete als das Leben eines Rajputenprinzen, das er hinter sich gelassen hatte. Er las Greisinnen Briefe von weit entfernt lebenden Enkelkindern vor, die es in der Fremde zu etwas gebracht hatten, fertigte Dokumente über den Erwerb von Häusern und Höfen an, schrieb ebenso Rechnungen und schriftliche Klagen von Handwerkern wie deren Kunden, schlichtete Familienstreitigkeiten über einen hingekritzelten letzten Willen, spielte den Postillon d’Amour für schneidige Burschen und heimlich in den Laden huschende Mädchen, die schamhaft unter ihren Schleiern erröteten. Im Schreiberstübchen saß er im Zentrum von Klatsch und Tratsch, der bis weit über die Stadtmauern hinausreichte und gab ihn an interessierte Zuhörer weiter, und so vernahm er nur
Weitere Kostenlose Bücher