Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
Vom Netzwerk:
gereizt, hatte nur wenige Stunden geschlafen, und diese waren von bösen Träumen zerrissen gewesen, an die sie sich am Morgen nicht mehr hatte erinnern können. Mit halbem Ohr hörte sie Margaret die Eingangstür öffnen und leise mit dem unerwarteten Besuch sprechen, während sie zum wiederholten Male die Gesamtheit der Liste durchging, verbissen alles noch einmal durchrechnete, um vielleicht einen Flüchtigkeitsfehler zu finden, der die Endsumme noch nach oben korrigieren würde. Die Tür fiel ins Schloss, und eilig näherten sich Margarets Schritte wieder der rußigen Küche.
    »Es ist in der Tat ein Besucher«, verkündete sie atemlos.
    Ohne aufzusehen, runzelte Helena die Stirn. »Hast du ihm nicht gesagt, dass Vater – «
    »Der Gentleman ist gekommen, um dich aufzusuchen.«
    Ruckartig hob Helena den Kopf. »Mich?«
    »Das gnädige Fräulein höchstpersönlich!« Mit triumphierender Geste hielt Margaret ihr die Visitenkarte hin, die Helena zögerlich entgegennahm.
    Ein steifer Karton, cremeweiß und mit samtartiger Oberfläche, darauf in schlichten schwarzen Lettern ein Name. Keine Adresse, kein Titel – nur ein Name.
    Ian Neville .
    Die Tür zum Salon stand offen. Den Rücken ihr zugekehrt und in den Schatten des unbeleuchteten Raumes verborgen, war der Besucher in die Betrachtung des Gemäldes vertieft. Helena verspürte einen feinen Stich, wusste sie doch selbst, wie reizlos sie wirkte, verglichen mit der strahlenden Schönheit ihrer Mutter, und es wunderte sie, dass es ihr in diesem Augenblick etwas ausmachte. Der Kreis ihrer Bekannten an diesem einsamen Ort war winzig, und dennoch hatte sie das Gefühl, nicht mit einem völlig Fremden im Raum zu sein, wenn sie sich dabei auch befangen, fast ein wenig furchtsam fühlte. Sie holte tief Luft. »Mr. Neville?«
    Er schien nur auf sein Stichwort gewartet zu haben, so gelassen wandte er sich um. Das trübe Licht des Nebeltages fiel durch das niedrige Fenster auf ihn, als er mit einem spöttischen Zug um die Mundwinkel eine galante Verbeugung andeutete.
    »Guten Morgen, Miss Lawrence.«
    Allein das Eintreten Margarets, die ein Tablett mit Tee und Gebäck vor sich her trug, verhinderte, dass Helena ihrem Impuls zur Flucht folgte wie zwei Tage zuvor am Strand. Das Klirren rasch auf den Tisch gestellten Geschirrs, das plätschernde Geräusch eingeschenkten Tees, dann klappte die Tür in ihrem Rücken, und sie waren allein.
    »Ich würde jede Wette halten, dass Sie nicht mit einem so baldigen Wiedersehen gerechnet haben.«
    Unbeweglich sah sie zu, wie er sich ganz selbstverständlich in einen der Sessel fallen ließ und aus der Innentasche seines Rockes ein silbernes Zigarettenetui hervorholte.
    »Hat man Ihnen nicht beigebracht, in der Gesellschaft von Damen nicht zu rauchen?«, fauchte sie ihn mit hochrotem Gesicht an.
    Er warf ihr einen Blick zu, der deutlich machte, wie albern und unhöflich ihr Benehmen war, und der ihre Wangen noch heißer glühen ließ, steckte aber das Etui wieder ein.
    »Ihr Wunsch ist mir Befehl. Auch wenn ich Sie nicht für derart empfindlich gehalten hätte. Möchten Sie sich nicht auch setzen?« Mit einer großzügigen Handbewegung wies er auf den gegenüberliegenden Sessel, als sei er der Gastgeber und Helena eine Bittstellerin.
    »Danke, ich ziehe es vor zu stehen.«
    »Wie Sie wünschen.« Er beugte sich vor und griff nach seiner Tasse, der letzten des einfachen, mit verblichenen Rosen bemalten Services, die ohne Sprung geblieben war. Beim ersten Schluck verzog er das Gesicht und stellte die Tasse rasch wieder ab. »Minderwertige Qualität.«
    »Einen besseren können wir uns nicht leisten.«
    Mehrere Herzschläge lang sah er sie unverwandt an, sodass sie glaubte, unter seinem Blick zu einem Häufchen Asche werden zu müssen.
    »Ich weiß.« Gemütlich lehnte er sich im Sessel zurück, und Helena konnte nicht umhin, mit Erbitterung seine bis ins Detail elegante Erscheinung anzuerkennen – die eng sitzende braune Weste aus glänzendem Seidenstoff unter dem passenden schmalen Gehrock, das feine Hemd, die dezent gemusterte Krawatte, an der ein winziger Brillant funkelte. Das kleine Vermögen, das sein Erscheinungsbild gekostet haben mochte, hätte sie, Jason und Margaret mehrere Monate gut leben lassen, und er trug es mit einer sichtbaren Unbekümmertheit, ja Gleichgültigkeit zur Schau, für die ihn Helena ebenso verabscheute wie beneidete. Bei aller Eleganz hatte er nichts Weiches, Dandyhaftes; er war schlank und doch kraftvoll, wie

Weitere Kostenlose Bücher