Himmel über Darjeeling
damals, vor über zwanzig Jahren in Kalkutta. Sie hatte Indien gehasst, vom allerersten Tag an, an dem ihre Eltern sie aus der Obhut des Pensionats für Offizierstöchter in einem der vornehmeren Viertel Londons nachgeholt hatten – sie hatte die Hitze gehasst, den Staub, den Schmutz und die Menschen, und jeden Sonntag während des Gottesdienstes dankte sie dem Herrn für Seine unendliche Gnade, den kinderlosen älteren Bruder Sir Henrys so überraschend zu sich geholt zu haben. Ein wenig war sie auch stolz auf sich selbst, sich so geschickt ihren Ehemann ausgesucht zu haben. Die Ehefrau eines Obersts zu sein war gut, noch dazu eines Obersts, der sich während des indischen Aufstandes 1857 so verdient gemacht hatte wie der ihre. Es war jener Aufstand gewesen, in dem diese undankbaren, gottlosen Schwarzen die segensreiche Hand der Briten bissen, die sie ernährte, und Lady Sophia hatte ihn bis heute als persönlichen Affront gegen sie betrachtet, obwohl sie außer der Abwesenheit ihres Gatten so gut wie nichts davon mitbekommen hatte. Noch besser aber war es, Herrin über ein solches Gut wie das von Oakesley zu sein, einen Titel zu haben. Frohlockend war sie vor sechzehn Jahren hierher gereist, bereit, das Herrenhaus mit eiserner Hand zu führen und ihren damals dreijährigen Sohn zum Erben von Land und Vermögen zu erziehen. Jede Nacht betete sie inständig darum, das Kind, das zu jener Zeit in ihrem Leib heranwuchs, möge eine Tochter sein, so schön und anziehend, dass sie später eine hervorragende Partie darstellen würde. Und wie es sich für einen Gnädigen Gott wie den ihren gehörte, erfüllte er ihr diese Forderung.
Einen Finger auf den Lippen, wandte sich Lady Sophia zu ihrem Gatten um.
»Er wird noch diese Woche um ihre Hand anhalten«, flüsterte sie ihm mit einem Lächeln zu, das ihre harten Gesichtszüge kaum erhellte. »Lass uns darauf eine Tasse Tee trinken.«
Unter gepuderten Perücken blickten die Lords und Ladys der alteingesessenen Familie Claydon in ihren breiten Goldrahmen von der Seidentapete hinab, so alteingesessen, dass der Grund und Boden, auf dem sie lebten, ihr Eigentum war und sie ihn auf ihre Nachkommen vererben konnten. Traditionell gehörte das Land der Grafschaft fast ausschließlich dem Prinzen von Wales; Ländereien konnten nur gepachtet werden, längstens auf die Dauer von hundert Jahren, und in dieser Gegend waren es nur Oakesley und der winzige Flecken von World’s End – ehemals ein Teil des Landsitzes, durch einen Erbschaftsstreit vor langer Zeit davon abgespalten –, die in Privatbesitz waren.
Wohlgefällig musterten die Ahnen die Sitzgruppe mit den geschwungenen Rahmen aus edlem Holz und den üppigen Polstern aus weinrotem Chintz. Auf zierlichen Tischchen und dem weißen Marmorkamin waren Nippesfiguren und Wunderwerke der Uhrmacherkunst geschmackvoll verteilt – genug, um die Bedeutung des Hauses zu unterstreichen, aber nicht so viel, dass es überladen wirkte. Die hohen Sprossenfenster erlaubten einen ungehinderten Blick auf den Park mit seinen langgezogenen Grünflächen und den alten Eichen, älter noch als das Haus selbst, die Eichen, die dem Besitz seinen Namen gegeben hatten und deren nackte Zweige sich im Novembernebel verloren, der dicht über Oakesley Manor hing.
»Was veranlasst dich, an einen Antrag von seiner Seite zu glauben?«, murmelte Sir Henry hinter seiner Tasse, während der heiße Dampf seinen grauen Bart angenehm durchfeuchtete. Mit seinem lieblichen Duft brachte er einen flüchtigen Moment lang Erinnerungen an sonnendurchglühte Savannen und schwül-heiße Nächte am Ufer des Ganges mit sich, an brennende Dungfeuer und den Duft reifer Mangos – Erinnerungen, die in ihm nagende Sehnsucht auslösten, eine Spur von Bedauern für das, was er gegen Titel und Grundbesitz hatte eintauschen müssen.
»Ich sehe, wie er sich längst im Netz ihrer Reize verfangen hat.« Lady Sophia gab dem livrierten Diener einen Wink, ihrem Tee Sahne hinzuzufügen. Ohne ein Wort des Dankes nahm sie ihre Tasse entgegen.
Sir Henry tat einen tiefen Schluck und genoss den puren Geschmack des Tees, die zarte Blume, die er niemals durch die schwere Süße von Sahne erdrücken, je nach Sorte und Pflückung allenfalls mit einer Spur Zitrone noch verstärken würde. Die aromatische Flüssigkeit verwässerte die bittersüße Nostalgie, spülte sie seine Kehle hinab.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er nach einer genießerischen Pause, »ob ich eine solche Verbindung
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