Himmel über Darjeeling
dieses Dilemmas, ehe sich Mohans Gesicht aufhellte.
»Er ist halb Rajpute, halb angrezi . Vielleicht muss er sich eines Tages für eine der beiden Seiten entscheiden – er sollte beide Namen tragen.«
Und so geschah es.
11
D er Schnee schmolz, weggewaschen von den Regenschauern, die über die Hügel Kangras strichen, und das, was vom Winter übrig war, verstrich im Takt, den ein Neugeborenes seiner Welt vorgibt. Winston, zur Untätigkeit verdammt, saß oft Stunden neben der einfachen Wiege, die er mehr praktisch denn kunstfertig gezimmert hatte, und betrachtete staunend seinen Sohn, wenn er schlief und träumte, wie er wuchs und sich beinahe täglich veränderte, wechselte sich mit Mohan Tajid ab, ihn durch die Räume zu tragen, wenn er die Nächte durchschrie. Seine Haut war hell, fast weiß, und Winston schämte sich seiner Erleichterung, dass sein Sohn nicht von einem Kind rein europäischer Herkunft zu unterscheiden war. Die Geburt hatte Sitara sehr geschwächt; sie hatte viel Blut verloren und kam nur langsam wieder zu Kräften, beharrte aber dennoch darauf, den Kleinen selbst zu nähren, und Mira Devi, die noch immer auf einen eigenen Enkel wartete, umhegte ihn voller Liebe.
Der März konnte sich nicht entscheiden, ob er noch dem Winter die Treue halten oder schon den Frühling ins Tal lassen sollte. Dunkel und dramatisch ballten sich Wolken um die Schneefelder und Gletscher der Berge im Nordosten, aber von Westen her brach immer wieder Sonnenschein hindurch, brachte das Funkeln jungen Grüns auf den Feldern heraus, die die Frauen des Dorfes mit einfachen Hacken bearbeiteten. Aus der Ferne sahen sie in ihrer bunten Kleidung aus wie Paradiesvögel, die in der Bodenkrume pickten. Die zarten Ensembles der Obstblüten, in Rosa und Weiß, zitterten, wenn der Wind sich erhob, und missmutig blökten Schafe in ihren Pferchen. Mira Devis Mann kam vom Dorf herauf und half, kopfschüttelnd über die Unwissenheit der Fremden, einen Gemüsegarten und ein paar kleine Felder anzulegen.
Der April brachte sonnige Wärme und überquellendes Grün, auch wenn die Gipfel der Dhauladhars noch weiß glitzerten, und Sitara, kaum dass es ihr besser ging, stürzte sich mit Feuereifer darauf, im Haus und im Garten zu werkeln, den Säugling auf ihren Rücken gebunden und in der traditionellen Kleidung der Frauen des Tals: den losen Hosen, den salwar , die an den Knöcheln eng anlagen, darüber die weite, langärmlige Tunika, die kurta , die bis an die Knie reichte. Ein langer, transparenter Schal, der dupatta , über Brust und Schultern drapiert, verhüllte ihr Haar, das straff zu einem Zopf zurückgebunden war, nicht aber den roten Punkt auf ihrer Stirn, den sie stolz als Zeichen einer verheirateten Frau trug. Niemand fragte sie nach Dokumenten, und Sitara selbst benötigte keine, um sich als Winstons rechtmäßige Frau zu fühlen. Ohne schlechtes Gewissen hatte er in der Stadt, als er mit Mira Devis Ehemann Saatgut und Pflanzen und seine ersten Schafe und Ziegen kaufen war, vom Geld der Society bei einem Goldschmied Schmuck für Sitara gekauft – mit einem Anflug von Schuldbewusstsein aber dafür, weil er nur wenige annas gekostet hatte –, doch Sitara trug die zahllosen Armreifen, den Nasenschmuck und die Fußkettchen mit den klingelnden Glöckchen voller Freude und Stolz.
Sie blühte sichtlich auf, als Mutter und einfache Bauersfrau, ging auf in der Gemeinschaft der Dorffrauen, betete mit ihnen zu den Göttern, allen voran zu Shakti, der Göttlichen Mutter, und Winston erschien sie schöner und begehrenswerter denn je. Doch er ertappte sich oft dabei, dass er innehielt, wenn er neben Mohan auf dem Feld arbeitete. Was ist nur aus mir geworden, dachte er oft, wenn seine Gedanken abschweiften zu seinem früheren Leben, den Träumen von einer militärischen Karriere, von Ruhm und Erfolg, die er einst, vor scheinbar so langer Zeit, gehabt hatte. Vom Soldaten zum Bauern! Bitterkeit erfüllte ihn, ließ ihn oft gereizt und streitlustig reagieren, und er bereute es jedes Mal zutiefst, wenn Sitara ihr Gesicht verletzt abwandte. Er beneidete Mohan Tajid, der anscheinend seinem Dasein als Rajputenprinz keineswegs nachtrauerte; gleichmütig ging er der harten Arbeit auf dem Feld nach, scherzte mit den Bauern und Handwerkern im Dorf, schäkerte mit den unverheirateten Frauen und zahnlosen Greisinnen, spielte stundenlang mit seinem Neffen, den er innig liebte. Winston begriff nicht, weshalb sein Freund und Bruder sich so leicht dem
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