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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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neuen Leben anpassen konnte, ohne Reue, ohne Nostalgie, und er selbst immer wieder voller Unzufriedenheit war, dem nachtrauerte, was er zurückgelassen hatte.
    Der Sommer überzog das Tal mit Sonnenglut, und heiße Winde trugen an manchen Tagen den Staub aus den Ebenen des Punjab bis in das Tal hinein. Scharlachrot blühten die hochstämmigen Canna-Lilien in den Gärten, und zahllose Bäume hatten sich ein tiefrosa Festkleid angelegt. Die Berge erschienen unverhüllt, schwarzer Granit mit den gelblichen Flecken ewiger Gletscher. Der klare Bach unweit des Palastes schwoll durch Schmelzwasser aus dem Gebirge und vereinzelte Gewitter an, preschte gurgelnd durch sein steiniges Bett. Im Juli brach die Hitze, hingen aufgeblähte Wolken tief über dem Tal und versperrten die Sicht auf die sonst allgegenwärtigen Berge, und der Monsun ergoss sich über das Tal. Der Mais stand schon hoch; im strömenden Regen pflügten die Männer die abgeernteten Reispflanzen unter, und in ihren Fußstapfen setzten die Frauen neue Schösslinge. In jeder Richtung breiteten sich neue Schattierungen von Grün aus, und gelbe, rote und pinkfarbene Orchideenblüten quollen aus den Rissen knorriger Baumstämme.
    Der Regen ließ nach, und die goldenen Tage der Erntezeit folgten, in denen es Obst und Gemüse im Überfluss gab und nach der Maisernte der Weizen zu reifen begann. Ein neuer Winter kam, ein milderer dieses Mal, und nach diesem ein neues Frühjahr, mit blühenden Wiesen, auf denen Schmetterlinge umhertanzten. Eines der Pferde fohlte, Schafe lammten, der Garten trug reiche Früchte.
    So verstrich die Zeit im Tal der Freude, ruhig und gemächlich, im Kreislauf der Jahreszeiten und des Lebens, und inmitten des grünen Tals, im Schatten der Berge, zwischen den bemalten Mauern des Rajputenpalastes, gedieh Ian wie die Pflanzen im Garten seiner Mutter, begann zu krabbeln, seine ersten Worte zu brabbeln, machte Rajiv seine ersten Schritte an der Hand von Mira Devi und entdeckte neugierig die kleine Welt, die ihn umgab, ein fröhliches, zufriedenes Kind, geborgen in der Liebe seiner Familie, der Gemeinschaft des Dorfes und im Frieden des Tals, den nichts zu stören vermochte.
    Dass die Sikhs vom Punjab aus auf ein Gerücht hin, die Briten planten eine Invasion, über den Sutlej marschierten, vernichtend geschlagen wurden und Kangra mit dem Vertrag vom 9. März 1846 Teil des britischen Empires wurde, dass die Sikh-Kommandantur in der Festung von Kotla Widerstand leistete, eine britische Artillerie vor dessen Mauern aufgefahren wurde und es nach zwei Monaten Belagerung unblutig einnehmen konnte – das alles erfuhren sie erst viel später.
    Nur manchmal sah Sitara ihren Sohn versonnen an, wenn er mit beiden Händen in der Erde wühlte, wie er es bei seiner Mutter gesehen hatte, staunend mit seinen dunklen Augen, die den ihren so sehr glichen, die Blüte betrachtete, die er eben aus einem Strauch gerupft hatte, und musste an die Worte denken, die Mira Devi gesagt hatte, als sie ihn als Neugeborenen in ihre Arme gelegt hatte.
    »Was einem Menschen im Leben beschieden ist, das jori , wird durch das bestimmt, was man aus einem früheren Leben mitbringt, wie man in diesem Leben handelt, und durch das, was vidhi mata , Mutter Schicksal, bei der Geburt auf die Stirn schreibt – danach wird Dharmraj, der Gerechte Herrscher, der alles aufschreibt, die Seele nach ihren Taten in der Welt beurteilen.« Oft umarmte Sitara dann ihren Sohn und sang ihm leise die Verse ins Ohr, die sie von Mira Devi gelernt hatte: Han kinni tere lekh like, kinni kalam pheriyan, dharmraj mera lekh like, vidhi mata kalam pheriyan – Nun, wer schrieb deine Linien des Schicksals? Wer führte die Schreibfeder? Dharmraj schrieb meine Linien des Schicksals. Vidhi Mata führte die Schreibfeder.
    Und oft schlich sie sich im Schutz der Dunkelheit aus dem Haus und entzündete am Fuß des hohen Pipal-Baumes, der mit seiner blassen Rinde und dem länglichen, herzförmigen Laub am Ufer des Baches stand, ein Öllämpchen und legte Blütenzweige als Opfergaben nieder, um so Brahma, den Schöpfer, zu bitten, ihrem Sohn ein gutes Schicksal zu gewähren.
    Es war ihr vierter Sommer im Tal der Freude, heiß und sonnig, und Sitara trug wieder ein Kind unter ihrem Herzen, als William Jameson nach Kangra kam, in den Satteltaschen sorgfältig verpackte Setzlinge der camilla sinensis , der chinesischen Teepflanze, und einen chinesischen Teegroßmeister im Schlepptau, nach dessen Vorgaben unweit des

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