Himmel über Darjeeling
Palastes ein Versuchsgarten angelegt wurde. William ging, ließ aber Tientsin zurück, der selbst im strömenden Monsun täglich nach den jungen Pflanzen sah und der rasch zu einem Teil der Familie wurde. Die tief im Tal hängenden Wolken des Monsuns lösten sich auf, und sobald die Herbstsonne den Boden getrocknet hatte, warb Winston Arbeiter aus dem Dorf an, die aus Lehmziegeln eine kleine Manufaktur neben dem Garten errichteten, nach Tientsins Wünschen, bezahlt vom Geld der Society, das mit Williams Besuchen jedes halbe Jahr eintraf. Und auch wenn Tientsin dort eine kleine Kammer bezog, nahm er die Mahlzeiten im Palast ein und verbrachte manchen Abend dort, wiegte nur zu gerne die kleine Tochter in den Armen, der Sitara im selben Herbst das Leben schenkte und die die Namen Emily und Ameera, die Lotosblume, trug.
Die Aufsicht über den Bau der Manufaktur, das Anwerben und die Beaufsichtigung der Helfer aus dem Dorf, die Tientsin zur Hand gehen sollten, die Abfassung der Berichte für William und die Society – damit hatte Winston endlich eine Aufgabe gefunden, die ihn ausfüllte, auch wenn sich nur allzu bald herausstellte, dass er zwar nominell dem Versuchsgarten in Kangra vorstand, es aber Tientsin war, der den Arbeitern in den Brocken Kangri, die er gelernt hatte, sagte, was zu tun war, und ihnen oft genug einfach die entsprechenden Handgriffe vorführte. Und es war auch Tientsin, der über die kostbaren Pflanzen wachte, hier einen wuchernden Trieb abknipste, dort eine neue Züchtung versuchte, der mit Wasserdampf für das Welken experimentierte, mit verschiedenen Temperaturen und Zeiträumen für die Trocknung, der in Bambussieben die Teeblätter sortierte und über deren Aussehen, Farbe, Geruch und Geschmack beim Aufguss meditierte. Die Wahrheit war, dass Winston einfach nichts vom Tee verstand, sosehr er sich auch bemühte, und sie schmeckte bitter wie verbrannte Teeblätter.
Wie ein kleiner Schatten folgte Ian oft dem Chinesen zwischen den Teepflanzen hindurch, in die warme Luft in der Manufaktur, fasziniert von der Hingabe, die der dünne Chinese mit den kreisrunden Brillengläsern und dem langen Zopf diesen unscheinbaren Pflänzchen mit den glatten, glänzenden Blättern, den verschrumpelten violettbraunen Krümeln, die davon übrig blieben, angedeihen ließ. Tientsin seinerseits hatte sofort eine große Zuneigung zu dem Jungen mit den klugen dunklen Augen gefasst, der alles wie ein Schwamm aufzusaugen schien, was er ihm in seinem fehlerhaften Englisch erzählte, die Legenden vom Ursprung des Tees, seine jahrhundertealte Geschichte im Reich der Mitte, von wo aus er sich über ganz Asien verbreitete. Er schulte die Sinne des Jungen, indem er ihm frisch gepflückte Blätter in die Hand gab, ihn sie reiben und daran riechen ließ, ihn bat, genau auf jede Farbschattierung zu achten, auf das leise Knistern, das die Blätter von sich gaben, wenn man sie in der Handfläche zusammendrückte. Er zeigte ihm, wie sich die frischen Blätter im Wasserdampf zusammenrollten, wie minimale Änderungen in Hitze und Dauer zu extrem abweichenden Ergebnissen führen konnten. Er hieß ihn, zu schauen, zu fühlen, zu riechen, zu schmecken und zu horchen, und oft zitierte er dabei aus dem Chai Ching , dem Buch des Tees , von Lu Yu im achten Jahrhundert verfasst: »Die besten Blätter des Tees müssen gefaltet sein wie die ledernen Stiefel der tatarischen Reiter, sich kräuseln wie die Hautfalte zwischen Hals und Brust eines mächtigen Büffels, leuchten wie ein vom Südwestwind bewegter See, einen Duft entfalten wie die aufsteigenden Nebel aus einer einsamen Bergschlucht und saftig sein und weich wie die von feinem Regen erfrischte Erde …«
Und Tientsin vertraute Ian ein großes Geheimnis an: dass er nicht glaubte, in Kangra jemals wirklich guten Tee züchten zu können – das Klima war zu trocken, der Sommer zu heiß, der Boden besser für Getreide, Obst und Gemüse geeignet als für die sensiblen Teesträucher, und mit verträumtem Blick erzählte ihm der Chinese von einem weit entfernten Tal im östlichen Himalaya, kühler und regnerischer als Kangra, das von den Tibetern Rdo-rje-ling genannt wurde.
Der langsam, Jahr um Jahr, sich vergrößernde Teegarten, die Felder und die Gemüsebeete seiner Mutter, die kleinen, wohnlichen Zimmer im inneren Teil des Palastes, das war Ians Welt, war Rajivs Zuhause. Hindustani, Englisch und Kangri waren seine Sprachen, das Kangri, das er bei Mira Devi hörte und das er in der Schule
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