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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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unten im Dorf lernte, von den Jungen, mit denen er sich am Nachmittag balgte und kleine Echsen fing, ehe er wieder den Hügel hinauf zum Palast rannte. Mira Devis Geschichten und Lieder; Emily, Ameera, an der er mit inniger Liebe hing, die das kleine Mädchen mit den großen hellbraunen Augen stürmisch erwiderte; seine Mutter, die ihm von den Heldentaten seiner Vorfahren erzählte, sein Vater, der von der fernen, verregneten Insel im Meer sprach, von der er gekommen war. Die Grate des Dhauladhar, weiß glitzernd in der Mittagssonne, rotgolden leuchtend im Abendlicht; sein Pferd, auf dem er so sicher im Sattel saß, wie er auf der Erde stand und ging, mit dem er seinen Onkel Mohan begleitete, wenn sie Streifzüge durch die Wiesen und Wälder unternahmen, zu den alten verlassenen Tempeln, die über das Tal verstreut waren, steinerne Gipfel, shikharas genannt, in die Reliefs und Kannelierungen gehauen waren und quadratische Vertiefungen für Opfergaben und Öllichter, Spiegelbilder der Gipfel des Himalaya, auf denen die Götter ihren Wohnsitz hatten – jene Götter, von denen Mohan ihm dann erzählte, Shiva und Shakti, Brahma und Vishnu. Er hörte die Geschichten von Hanuman, Krishna, Ganesha – Gestalten, die er auf den bröckelnden Mauern der verlassenen Palastflügel wiederfand, durch die er stundenlang alleine streifen konnte, staunend vor den verblassenden Wandmalereien stehend, Gestalten, denen er wieder begegnete, wenn er zwischen den Geröllhaufen die winzigen Miniaturmalereien fand, sie mit der Hand vom Staub der Vergangenheit befreite, Miniaturen, in denen Künstler vergangener Jahrhunderte eine ganze Welt auf einer winzigen Fläche festgehalten hatten – eine Welt voller Helden und ihrer unsterblichen Liebe für die Dame ihres Herzens, ihrer Kämpfe und Siege, ihres Reichtums und ihrer Macht, voller Götter und Dämonen, eine Welt, die er hin und wieder nachts in seinen Träumen besuchte. Es gab keinen Unterschied zwischen Ian und Rajiv, er war beides; so wie seine Familie ihn bei beiden Namen nannte, wechselte er übergangslos von einer Sprache in die nächste, dachte und träumte in allen dreien. Kangra mit seinem gleichmäßigen Lauf der Jahreszeiten, beständig wie der Fels des Dhauladhar, war sein Land, seine Welt, und er hätte sich nicht vorstellen können, dass sich daran jemals etwas ändern könnte – und auch nicht, dass jenseits des Tales, in den Weiten Indiens, die Zeiger der Geschichte unaufhörlich vorwärts rückten, Zeiger, die sich daran machten, sein Leben, wie er es kannte, einfach beiseite zu fegen.

12
      I n jenen Tagen wurde Indien von einer merkwürdigen Armee kontrolliert, einer Söldnerarmee, die mehrheitlich aus Hindus der oberen Kasten, Brahmanen und Rajputen sowie Muslimen bestand und in der ein englischer Soldat auf fünf indische kam. Es war eine Söldnerarmee aus Einheimischen, befehligt von britischen Offizieren – Soldaten, die sich auf Befehl in den Tod stürzten, ihren Offizier unter Einsatz ihres Lebens aus dem Kugelhagel retteten – aber ihr Essen wegwarfen und lieber verhungerten, wenn der Schatten desselben Offiziers auf ihr Kochgeschirr fiel und es so verunreinigte. Offiziere und ihre Männer waren einander nicht nur Fremde, sondern hatten auch einen anderen Glauben, und die Lebensweisen unterschieden sich so sehr voneinander, dass jede Seite die andere mit Abscheu betrachtete. Kaste und Glauben machten es notwendig, auf einem Marsch mitten am Tag anzuhalten und es den Soldaten zu erlauben, sich ihrer Gürtel, Stiefel und Ausrüstung zu entledigen, um siebenhundert kleine Feuer zu entzünden, auf denen vierzehnhundert kleine Weizenkuchen gebacken wurden, jeder Soldat für sich – oder die Gebetsteppiche zu entrollen, auf denen die Muslime unter ihnen ihre Gebete gen Mekka verrichteten. Es waren keine patriotischen Motive, die den sepoy bewegten, in die Armee einzutreten – er war Soldat, weil es sein traditioneller Beruf war, weil es ihm ein angemessenes Auskommen ermöglichte, ihm sozialen Status, Einfluss und Ehre brachte. Er war stolz auf sich und seinen Beruf, und er war stolz auf die Farben seines Regimentes, und die Hindus unter ihnen verehrten sie mit denselben Riten wie der Bauer seinen Pflug, der Schmied seinen Hammer. Auf eine erstaunliche und bewegende Art war der sepoy einer Sache treu, die er im Grunde nicht verstand. Die sepoys hatten für die East India Companygekämpft und ihr Leben gelassen, weil sie sie in Friedenszeiten ernährte und

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