Himmel über Darjeeling
entlohnte und weil sie ihren Offizieren Vertrauen und Bewunderung entgegenbrachten.
Doch dieses Vertrauen hatte mit der Ausdehnung des britischen Herrschaftsgebietes, dem Einzug technischen Forschrittes und westlichen Gedankengutes zu bröckeln begonnen. Wenn ein Herrscher ohne direkten männlichen Nachkommen starb, wurde dieser Staat von den Briten annektiert, wie zuletzt 1856 das Königreich von Oudh, aus dem die meisten der sepoys stammten. Diese Praxis hinterließ zahlreiche verbitterte Erben, die danach trachteten, den fremden Machthabern zu schaden, und sei es nur durch hinterhältige, oft genug frei erfundene Gerüchte, die in Umlauf gebracht und weiterverbreitet wurden. Und viele bislang unabhängige Staaten fürchteten, als nächste an der Reihe zu sein. Großgrundbesitzer waren erbost durch eine Politik, die ihren armen Pächtern mehr Rechte zusicherte. Die Wissenschaft des Westens, seine medizinischen Kenntnisse, die schnaubenden Stahlrösser der Eisenbahn, deren Gleise, die durch das Land schnitten, die Telegraphenkabel, die sich endlose Meilen entlang spannten, sie schienen ein Zeitalter der Aufklärung anzukündigen, das die Brahmanen, die Priester und Gelehrten, um ihre Macht fürchten ließ. Und als ob das alles nicht schon genug gewesen wäre, hatten die Engländer begonnen, sich in die Gesetzgebung einzumischen: Sati wurde verboten, die Wiederverheiratung von Witwen gestattet, wer zu einer anderen Religion konvertierte, behielt seine Erbberechtigung, und Gefängnisinsassen wurden gezwungen, gemeinsam im Speisesaal zu essen, anstatt jedem zu erlauben, seine Mahlzeiten selbst zuzubereiten, wie es das religiöse Gesetz vorschrieb. In der Überzeugung, dem in ihren Augen rückständigen Land segensreichen Fortschritt zu bringen, kratzten die Briten an den Grundfesten der indischen Gesellschaftsordnung, an Tradition und Glauben und begannen, das Fundament auszuhöhlen, auf dem ihre Macht bislang geruht hatte, ohne es zu bemerken. Gleichzeitig hatten die vernichtenden Niederlagen in Kabul und auf der Krim gezeigt, dass die Heere der Krone bei weitem nicht so unbesiegbar waren, wie sie geglaubt hatten, und der Groll von Prinzen und Priestern sickerte in das Land und seine Menschen hinein, breitete sich aus und begann unter der Sonne zu gären.
Es war ein betörender Tag im Frühling. Der Wind von den Bergen trieb hoch am Himmel weiße Wolkenfetzchen vor sich her, die zu dünn waren, um die Wärme der Sonne schlucken zu können. In der Nacht hatte es geregnet, und Wassertropfen glitzerten auf den sattgrünen, müßig im Wind wippenden Blättern der Teesträucher. Ian sah zu, wie Tientsin probeweise den obersten Trieb eines Strauches abknipste, ihn prüfend betrachtete und daran schnupperte. Ein bunter Falter, der wie betrunken über die weißseidigen Blüten torkelte, nahm Ians Aufmerksamkeit für einen Augenblick gefangen, ließ ein Lächeln über sein Gesicht huschen. Er war vergangenen Winter mächtig in die Länge geschossen, war nun recht groß für seine zwölf Jahre. Seine Mutter hatte erst gestern mit leisem Seufzen seine Hosen betrachtet, die ihm an den Knöcheln zu kurz geworden waren, und Mira Devi gebeten, im Dorf Stoff für neue zu besorgen. Er hatte leichte Gewissensbisse deswegen gehabt – er wusste, in weniger als einem halben Jahr würden er und Emily ein Geschwisterchen bekommen. Seiner Mutter ging es deswegen in den letzten Wochen oft nicht gut, und er wollte ihr so viel Arbeit wie möglich abnehmen.
Er folgte mit seinem Blick dem Schmetterling, wie er über die langen Reihen des Tees flatterte, in Richtung der Palastmauern. In der Ferne erkannte er Mira Devi, in ihrer blauen kurta und den roten Hosen, wie sie den Hügel zum Palast hinaufeilte, den dupatta , der ihr vom inzwischen fast völlig ergrauten Kopf gerutscht war, wie eine Fahne hinter sich her wehen lassend. Sie stolperte, fiel, rappelte sich wieder auf, eilte weiter, sich die schmerzenden Seiten haltend, und der Tonfall, in dem sie den Namen seiner Mutter rief, ließ seinen Magen sich zu einem harten Klumpen zusammenballen. Ohne sich um das verdutzte Gesicht Tientsins zu kümmern, lief er los, in blanker Angst, mit der Ahnung eines furchtbaren Unglücks.
Atemlos stürmte er in die Küche. Mira Devi redete, von heftigem Keuchen und krampfhaftem Luftholen unterbrochen, in höchster Aufregung auf Sitara ein, die starr und totenblass, ihre dunklen Augen schreckgeweitet, vor dem Herd stand, den Kochlöffel noch in der Hand, zu
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