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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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Süden, um die Stadt herum, entgegen dem Flüchtlingsmarsch, denn er wollte nicht riskieren, den bestimmt schon herannahenden Truppen aus der Garnison im Norden zu begegnen, die ihn für einen der Aufständischen halten und im Zweifelsfall keine Zeit mit behutsamen Nachfragen verschwenden würden.
    Doch wohin sollte er reiten? Er wusste nicht, wie weit sich dieser Aufstand schon im Land ausgebreitet hatte, und erst mitten in der Nacht bemerkte er, dass er in Richtung Südwesten unterwegs war, nach Rajputana. Ohne einen Plan gemacht zu haben, ohne einen klaren Gedanken zu fassen, ritt er weiter, seinem inneren Kompass folgend, und dessen Nordpol zeigte unbeirrt auf immer den gleichen Punkt: Surya Mahal.

15
      K eine Reise, die Mohan jemals zuvor unternommen hatte, keine, die er später in seinem Leben machen würde, balancierte so sehr auf dem schmalen Grat zwischen dem Reich des Lebens und dem Abgrund des Todes wie diese Flucht aus dem Hexenkessel von Delhi in jenen Tagen und Wochen. Ein Fünkchen aufglimmender Ratio warnte ihn vor dem Wahnsinn, mit dem schwerverletzten Jungen in der Gluthitze des Sommers eine so weite Strecke zurückzulegen, unbewaffnet, ohne Proviant oder Trinkwasser, in einer Jahreszeit, in der die Erde Zentralindiens verdorrte, vor dem Wahnsinn angesichts dessen, was ihnen, würden sie Surya Mahal lebend erreichen, von seinem Vater, dem Raja, drohte. Sein Verstand riet ihm, in einer Stadt, einem Dorf oder auf einem Gehöft Zuflucht zu suchen, so lange wenigstens, bis Ians Wunden notdürftig versorgt, sie sich mit dem Notwendigsten eingedeckt hatten. Doch er besaß nichts, was er dagegen hätte eintauschen können – der letzte Rest ihres Vermögens, Bargeld und die ungefassten Juwelen, waren in Delhi zurückgeblieben, und sein Instinkt sagte ihm, dass große Teile des Landes bereits in Aufruhr waren oder es in Kürze sein würden, und auch, dass der Raja seinem wehrlosen Enkel kein Leid zufügen würde.  Und schließlich zog er es vor, irgendwo in der Wüste Rajputanas zu verschmachten, als zwischen die Fronten zu geraten, ohne in der Lage zu sein, sich und Ian verteidigen zu können.
    So ritt er Tag und Nacht durch die Einöde der ausgetrockneten Ebenen um Delhi, der staubigen toten Steppen Rajputanas, mied jegliche menschliche Ansiedlung, auch wenn dies einen Umweg von mehreren Meilen bedeutete. Tagsüber flammte die grellweiße Sonne von einem Himmel, der sich um ihre Korona zu verziehen und Blasen zu werfen schien. Über dem Boden flimmerte und flirrte es, ließ ihn mehr als einmal glauben, vom Weg abgekommen zu sein und auf eine der Meeresküsten zuzureiten, von denen Winston ihm erzählt hatte, dann wieder, im nächsten Moment in flüssigen Treibsand zu geraten. Nachts ließ die aus bröckeliger, rissiger Erde, aus Sand und Staub aufsteigende Hitze die Luft kaum abkühlen, schien in ihrem Vakuum den Himmel so tief herabzusaugen, dass Mohan glaubte, gleich mit dem Scheitel die Gestirne zu streifen. Wasserlöcher waren selten, doch wenn sie auf eines trafen, stieg Mohan ab, goss Ian aus der hohlen Hand das kostbare  Nass in den leicht geöffneten Mund, ehe er sich selbst davon schöpfte. Gedörrte Kräuter und Blätter, verschrumpelte Beeren zerkaute er zu einem Brei, den er dem Jungen wie einem Vogelküken in den Rachen stopfte, so seinen Schluckreflex anregte, während ihr Pferd verzweifelt an den dürren Halmen und spröden Zweigen rupfte. Zweimal erhob sich wie von Geisterhand eine Staubwolke, breitete ihre Schwingen aus, stürmte auf sie zu, tosend, brausend, verschlingend. Einmal war es eine Felsgruppe, einmal die Grundmauer eines halb verfallenen chattris , die ihnen Zuflucht boten vor den tödlichen Sandstürmen, die ohne Vorwarnung über die Steppe fegten, in Augen, Mund, Nase drangen, kratzig, erstickend, und von denen ganze Kamelkarawanen verschluckt worden und nie wieder aufgetaucht waren. Manchmal erwachte Ian aus seiner Bewusstlosigkeit, sah ihn stumm aus fiebrig glänzenden Augen an, lange, ohne eine Träne, ohne einen Klagelaut, ehe er wieder ohnmächtig wurde. Das Blut aus seinen Wunden war getrocknet, kräuselte sich um das rohe Fleisch, und irgendwann hatte Mohan keine Kraft mehr, die schillernden Fliegen zu verscheuchen, die sie umschwärmten und sich in Scharen auf ihnen niederließen, wie ein einziges sie verhöhnendes Schandmal. Über ihnen glitten Geier durch die Luft, und nachts umkreisten sie die Schatten der Hyänen mit leuchtenden Augen, wagten sich bis auf

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