Himmel über Darjeeling
Zaren von Russland – und die Engländer selbst fielen durch eine einfache Patrone.
In Bareilly zerschmetterte eine Kugel, von seinem eigenen sepoy abgefeuert, das Rückgrat eines Brigadiers, und er starb langsam, schmerzverkrümmt, zum Klang des Sonntagsgeläuts, und sein Blut tränkte Stroh und Dung des Kamelunterstands. Ein vom Hinduismus zum Christentum konvertierter Handwerker wurde von den Aufständischen an den Füßen durch die Straßen Delhis geschleift, getreten, bespuckt, verhöhnt, mit einem Schwertstreich schließlich geköpft, dass aus seinem Torso Blut auf die Straße sprudelte. Zähnefletschend wie blutdürstige Hunde stürmten turbantragende Männer während des Gebets in eine Kirche, hackten Männer, Frauen und Kinder in Stücke, und ein fünfjähriges Mädchen, das das Massaker wie durch ein Wunder überlebte, würde den Rest seines Lebens schreiend aus den Albträumen erwachen, in denen es sich in dieser Kirche wiederfand. Ein Richter in Fatehpur wartete, die Bibel in der Hand, auf den Ansturm der Rebellen. Pflichtbewusst hatte er alle anderen Europäer der Stadt flussabwärts, nach Allahabad geschickt, sich selbst aber die Aufgabe heldenhafter Gegenwehr auferlegt. Als der Mob an das Haus heranwogte, in dem er sich verbarrikadiert hatte, gelang es ihm, sechzehn von ihnen zu erschießen, ehe er selbst getötet wurde. Seine Mörder tobten plündernd vorbei an der Säule, die der Richter selbst einst auf Englisch und Hindustani mit einer Inschrift der Zehn Gebote versehen hatte: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht töten. Doch von nun an galt allein: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Heftig schwang das Pendel des Krieges aus, überboten sich Tag für Tag die Berichte mit immer weiteren, grausigeren Details, die die Volksseelen auf beiden Seiten aufschäumen ließen. Aus den Soldaten wurden Racheengel, die dem entfesselten Teufel des Aufstands mit Schwert und Feuer beizukommen versuchten und die stolz waren auf ihre Taten, die sie als Rechtfertigungen für die Gräuel von Meerut und Delhi verstanden und für die Morde, die in den Wochen und Monaten darauf folgten.
Elf Männer, die verdächtigt wurden, einen aus Delhi geflohenen Arzt und seine Familie ermordet, die Frau zuvor vergewaltigt zu haben, wurden mit Schweineschmalz eingerieben, jedem ein Stück Schweinefleisch in den Rachen gestopft, ehe man sie hängte. In den Ästen der Bäume baumelnde Inder, die – gerechtfertigt oder nicht – als Rebellen aufgeknüpft worden waren, manche aus einer grausamen Laune heraus zu bizarren Figuren gruppiert, bestimmten das Bild an den Straßenrändern in jenen Tagen. Die meuternden sepoys eines Regimentes wurden überwältigt, im Kasernenhof zusammengepfercht und von Kanonenfeuer zerrissen. Verdächtige, oft genug jeder Inder, dessen man habhaft werden konnte, wurden gehängt, verbrannt, erschossen, niedergemetzelt, ihre Dörfer geplündert, ihre Frauen geschändet, und die dadurch aufgebrachten Inder vergalten es ihnen mit weiteren Massakern an Männern, Frauen und Kindern.
Lange schwebte Mohan Tajid zwischen Leben und Tod, bewegte sich in einer Schattenwelt, in der er als kleiner Junge wieder durch die Gänge und Höfe des Palastes tollte, gefolgt von Sitara, die Mühe hatte, ihm zu folgen, behindert durch die Stoffbahnen ihres Saris, und ihm zurief, er solle auf sie warten. Doch als er sich lachend umdrehte, traf ihn die Druckwelle der Explosion, und das Letzte, was er sah, ehe er zu Boden ging, war Sitaras erstauntes Gesicht, das sich mit dem von Emily überlagerte, in deren Augen Todesangst stand. In den Straßen Delhis fand er sich wieder, die bedrückend leer und still waren. Der Boden gab unter ihm nach, und als er den Blick senkte, sah er, dass das Pflaster übersät war von leblosen Körpern. Sosehr er sich auch bemühte, auf keinen der Toten zu treten, keinen von ihnen dadurch zu entehren, es gelang ihm nicht – es waren zu viele. Er sah in all die Gesichter unter ihm, im Todeskampf verzerrt, und suchte nach seiner Familie, doch die Züge waren ihm alle fremd. Er strauchelte, fiel, kam nicht mehr auf die Beine, kroch vorwärts, mit zusammengebissenen Zähnen. Gebündelte Lichtstrahlen reckten sich ihm wie Finger entgegen, und er wusste, er musste dorthin gelangen, er musste ans Ende der Straße gelangen, und als er glaubte, er könnte nicht mehr weiter, weil die Sonne zu schmerzhaft für seine Augen war, stieg sie empor, gab den Blick frei auf ein weites grünes Tal, durch das sanft eine Brise
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