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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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wie eine Kobra rann die Glut die Lunte entlang und verschwand im Inneren des Arsenals.
    Die Erde bebte bis nach Amballa, einhundertzehn Meilen entfernt. Mohan wurde zu Boden geschleudert, von etwas Hartem am Kopf getroffen; das Einzige, was er noch greifen konnte, war Winston. Er riss ihn mit sich, und aus dem Augenwinkel sah er noch, wie in der Druckwelle der Explosion Steinbrocken und Eisenteile umherflogen, es Staub vom Himmel regnete, ehe er hart aufschlug, das Bewusstsein verlor und liegen blieb.
    Einen Augenblick lang herrschte Stille, gelähmte, entsetzte, tödliche Stille. Dann, wie ein aufbrausendes, kochendes Meer ein tausendfaches Gemurmel aus der Stadt, das zu Schreien anschwoll, dem Gerenne panischer Menschenmassen, die ihr Heil einzig in der Flucht sahen.
    Benommen kam Mohan zu sich. Er blinzelte ein paarmal, bewegte vorsichtig seine schmerzenden Glieder, kroch mühselig auf die Knie. Sein Kopf dröhnte, als er ihn hob, und er hatte Mühe, klar zu sehen. Am Himmel quoll eine gelblich weiße Rauchwolke empor, von einem Kranz feinen roten Staubs emporgedrückt. Er hustete, nieste, er war am Leben. Neben ihm regte sich was, und er erkannte Winston, der aufstöhnte; dann erst schoss ihm ins Gedächtnis, wo er sich befand und was unmittelbar vor der Explosion geschehen war. Suchend blickte er sich um, tastete sich vorwärts, zwischen Gesteinsbrocken, Staub, Blutlachen, verbogenem Metall, Stofffetzen von Uniformen. Sein Blick blieb an einem Stück ehemals rotem, dünnem Baumwollstoff hängen, die grüne Stickerei kaum noch zu erkennen, voll gesogen mit Blut, schmutzverkrustet. Er streckte die Hand danach aus, weil es ihm so merkwürdig vertraut erschien, ohne dass er hätte sagen können, woher, als sein Blick auf zwei leblose, entstellte Körper fiel. Emily und Sitara . Er schluckte, er würgte; der Schmerz, der ihm durch den Körper fuhr, schien ihn ohmächtig werden zu lassen, ihm den Verstand zu rauben. Zitternd kroch er weiter, auf der Suche nach Ian. Er fand ihn, begraben unter der Leiche Bábú Sa’íds, dessen Rücken der Länge nach aufgeplatzt war und die Wirbelsäule sehen ließ. Keuchend wälzte Mohan den toten Körper beiseite, zog mit letzter Kraft den Jungen zu sich, dessen linker Arm von der Schulter bis zum Ellenbogen aufgerissen war und der aus einer Wunde im Gesicht heftig blutete. Doch er lebte, atmete, wenn auch nur schwach, und seinen bewusstlosen Neffen in den Armen wiegend, weinte Mohan Tajid, weinte um seine Schwester, ihr kleines Mädchen, verfluchte Shiva, den Zerstörer, verfluchte Vishnu, der sie davor nicht bewahrt hatte.
    Als ein langer Schatten auf ihn fiel, sah er auf, tränenblind. Winston stand vor ihm, staubbedeckt und verschrammt, und blickte stumm und starr auf die Leichen seiner schwangeren Frau und seiner kleinen Tochter.
    »Wir müssen raus aus der Stadt«, brachte Mohan mühsam hervor, die Stimme rau, nur mehr ein Flüstern, vom Staub und dem Salz seiner Tränen. Doch Winston schien ihn nicht zu hören.
    »Winston …«, sprach Mohan ihn noch einmal an.
    Geistesabwesend tastete Winston an seinem Hals herum, angelte unter seinem zerrissenen Hemd das Medaillon hervor, das Sitara ihm einmal im Dorf hatte anfertigen lassen, aus dünnem, gehämmertem Silber, mit Miniaturporträts von sich und den Kindern darin, das er seither an einer Kette um den Hals trug. Er umschloss es so fest, als enthielte es sein Herz, das zu zerbrechen drohte. Dann wandte er sich ab, ohne Mohan oder seinen Sohn auch nur mit einem weiteren Blick zu bedenken, und ging wieder in Richtung der Stadt hinab.
    »Winston«, brüllte Mohan ihm hinterher, das einzige Wort, das seine Lippen und Zunge zu formen vermochten, auch wenn es in ihm rief: Dein Sohn lebt, Winston, er braucht dich! Bleib hier, bleib bei uns! Denk an deinen Sohn … Er schrie seinen Namen, bis ihm die Stimme versagte und er stumm zusehen musste, wie Winston vom dicken Strom der Flüchtigen, der ihm in der Straße entgegenfloss, verschluckt wurde.
    Mohan biss die Zähne zusammen und rappelte sich auf. Schwankend hievte er Ian auf seine Schulter und reihte sich in die Menschenmenge ein, die in Richtung des Nigambodh-Darwazah-Tores eilte, in Richtung des Flussufers. Dort gelang es ihm, ein im Schilf verängstigt bockendes Kavalleriepferd, das seinen Reiter verloren hatte, so weit zu beruhigen, dass er Ian darauf ablegen und selbst aufsteigen konnte. Müde drückte er seine Fersen in die weichen Flanken des Pferdes und lenkte es gen

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