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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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Mordlust Jagd auf alles Europäische zu machen begannen.
    Der Manager der Delhi and London Bank rettete sich mit seiner Familie auf das Dach, doch die Rebellen erklommen ein benachbartes, höher gelegenes Dach, von dem aus sie hinuntersprangen und ihre Opfer in Stücke hackten. In den Büros der Delhi Gazette waren die Drucker gerade in höchster Eile dabei, eine Extra-Ausgabe über die über die Stadt hereingebrochene Welle der Gewalt zu drucken, als der Mob hineinbrandete, die Männer totschlug und Zeitungsblätter und Typen in den Fluss warf. Selbst die St. James’s Church wurde gestürmt, die Altarbrüstung und Kirchenstühle mit Schwertern zu Kleinholz gemacht. Einige der Aufständischen, die in den Glockenturm drangen, läuteten die Glocken voller Hohn, ehe sie auf die Seile einhackten und die Glocken klingend und dröhnend den langen schmalen Turm hinabsausten und mit einem Donnerhall auf dem Boden aufschlugen, der bis weit in die Stadt hineindrang und so lautstark das Ende friedlicher Zeiten verkündete.
    Winstons Hand, die eben das mit Gemüse gefüllte Fladenbrot zum Mund führen wollte, verharrte auf halbem Weg. »Was war das?«
    Mohan Tajid sah in die angstvollen Gesichter von Sitara und den Kindern, die wie er und Winston auf der festgestampften Erde saßen, die irdenen Schalen mit dem Frühstück umringend. Lautstarker Tumult von der Gasse drang zu ihnen.
    »Auf jeden Fall nichts Gutes.« Wie der Blitz war er auf, schnappte sich Emily, die zu weinen begonnen hatte, und scheuchte seine Familie auf. »Raus – nichts wie raus aus der Stadt. Zum Fluss!«
    Auf der Straße herrschte blankes Chaos. Menschen schrien, rannten durcheinander, Pferde scheuten, Ochsen brüllten, und als er zwei sepoys mit gezückten Schwertern vorübergaloppieren sah, ahnte er, dass sie sich im Krieg befanden, und gleich welcher Kriegspartei sie begegnen sollten: Als gemischtrassige Familie hatten sie von beiden Seiten nichts Gutes zu erwarten. Es war schwer, beieinander zu bleiben; immer wieder drohten sie von einem bockig den Weg versperrenden Rind oder ihnen entgegenkommenden Menschenströmen getrennt zu werden, unter die Räder eines vorwärts preschenden Wagens oder die Hufe eines scheuenden Pferdes zu gelangen.
    Als hätte ein rasant wirkender Virus der Gewalt und Gesetzlosigkeit die Stadt infiziert, fielen die ersten Plünderer über die Auslagen der Läden her, prügelten auf die wehrhaften Händler ein oder zündeten gleich die Häuser an. Sie kämpften sich durch die verwinkelten Gassen ihres Viertels, stundenlang, die Sonne hatte ihren Zenit schon längst überschritten, bis sie auf die nächstgrößere Straße gelangten, auf der sich die Menschenmassen etwas verteilten. Gewehrsalven knatterten durch die Luft, aus Richtung des Forts, und mehr als einmal sahen sie aus dem Augenwinkel, wie sepoys mit blutbeschmierten Säbeln aus den Häusern der Engländer rannten.
    Mohan dankte Krishna, dass Winston unter dem Turban, den er jetzt ständig trug und dem Schmutz im Gesicht erst auf den zweiten oder dritten Blick als angrezi zu erkennen war. Emily, die sich an ihn klammerte, wurde allmählich schwer auf seinem Arm, und Winston und Ian stützten Sitara, die unter der Hitze wie unter der Last ihres Kindes keuchte. Sie liefen geradeaus, die Mauer des christlichen Friedhofs schon in Sicht. Gleich würde sich der Weg gabeln, gleich konnten sie abbiegen, nach Norden in Richtung der ghats am Ufer des Yamuna. Mohan ertappte sich dabei, dass er beständig leise auf Emily einredete: »Gleich haben wir es geschafft, gleich, nur noch ein kurzes Stück …«
    Ein Mann sprang vor ihnen auf die Straße, hielt sie mit ausgebreiteten Armen und einem in der Sonne blinkenden Säbel auf, und es war Winston, der als Erster stehen blieb, sie dadurch alle anhalten ließ, mit einem Ausdruck blanken Entsetzens auf seinem Gesicht, als wäre ihm in all dem Schrecken zusätzlich noch der grausigste aller Dämonen erschienen. Tatsächlich ähnelte dieser Mann mehr einem Dämon denn einem Menschen; er war mager und bucklig; eines seiner Beine war krumm und kürzer als das andere, sein Gesicht mit dem wuchernden weißen Bart schief und wellig von Verwachsungen, und eines seiner Augen schimmerte milchig. Mohan wollte sie weiter vorwärts drängen, doch er selbst konnte sich nicht von der Stelle rühren, während sein Gehirn fieberhaft arbeitete, er in seiner Erinnerung kramte, weshalb ihm dieser Mann so bekannt vorkam.
    »Bábú Sa’íd«, murmelte er

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