Himmel über Darjeeling
Teesträucher sich dem Himmel über Darjeeling entgegenreckten, und so konnten Ian und Mohan sich auf die Suche nach Winston machen.
Es war eine langwierige, mühselige Suche: nach Augenzeugen, die Winston vielleicht nach jenem Tag in Delhi gesehen, mit ihm gesprochen hatten, nach Dokumenten, in denen sein Name eventuell auftauchte, Listen von Toten, Verwundeten, Vermissten der Meuterei. Ian blieb dabei stets im Hintergrund; es war Mohan Tajid, der nach Delhi ritt, nach Jaipur, dort Ajit Jai Chand einweihte, der ihnen seine Unterstützung zusicherte. Unzählige Strohmänner wurden von Mohan und Ajit angeworben, die für sie Nachforschungen anstellten, sich umhörten, im Geheimen Dokumente einsahen, Akten durchstöberten. Bis nach England zogen sich die Fäden, die sie in jener Zeit spannen. Abschriften und Berichte wurden angefertigt, die über geschickt ausgeklügelte Umwege schließlich nach Shikhara gelangten. Und in den langen Abendstunden arbeiteten Mohan und Ian die Schreiben durch, brüteten über Stadtplänen und Karten, verzweifelten oft über der Aussichtslosigkeit ihres Unterfangens, gaben jedoch nicht auf, erstellten Theorien, verwarfen sie wieder. Indien war ein Land von enormer Ausdehnung, die Lage in jenen Tagen des Aufstandes gänzlich unübersichtlich gewesen – ebenso gut hätten sie die vielzitierte Stecknadel im Heuhaufen suchen können. Hatte Winston Indien irgendwann in diesen zehn Jahren sogar den Rücken gekehrt, wären ihre Chancen, ihn ausfindig zu machen, gleich null gewesen.
Eines konnten sie jedoch recht schnell klären: Winston Neville, dessen Geburt im Kirchenbuch der Stadt Burton Fleming, Yorkshire, mit dem 30. April 1817 als dritter Sohn von George Neville, Esq., und Isabell Neville, née Simms verzeichnet war, war Ende 1844 als vermisst gemeldet, ein Jahr später für tot erklärt worden.»Vermisst, vermutlich gefallen, im ehrenvollen Dienst für Vaterland und Krone«, wie es in den Akten der East India Company hieß. Das war die offizielle Version, auch für Winstons Familie, die stolz war auf ihren heldenhaften Soldatensohn und von der mittlerweile nur noch ein Bruder Winstons lebte. Auch William Jameson, der die Rebellion in seinem Botanischen Garten in Saharanpore unbeschadet überstanden hatte und inzwischen Ehemann und Vater mehrerer Kinder war, hatte nie wieder etwas von Winston gehört. Ihn durch Dritte aushorchen zu lassen, ihn, dem sie damals die Möglichkeit verdankt hatten, im Kangratal Unterschlupf zu finden, erschien Mohan Tajid schäbig und unehrenhaft, aber er wusste, dass es klüger war, ihre Nachforschungen so geheim wie möglich zu halten.
Lange Monate blieb ihre Suche ergebnislos. Dann endlich gab es eine Spur, hatte sich jemand an den großen, massigen Engländer mit den blauen Augen und dem hellen Haar erinnert, einen ausgebildeten Soldaten, der fließend Hindustani sprach, doch sie führte ins Nichts. Noch ein Augenzeugenbericht fand sich, doch auch dort kamen sie nicht weiter. Brief um Brief folgte, mit Indizien, die sich wiederholten, verdichteten, Vermutungen erlaubten, und schließlich konnten sie die einzelnen Puzzlestücke zusammenfügen, waren Ian und Mohan in der Lage, Winstons Weg nachzuvollziehen, den er in der staubigen Straße Delhis an jenem 12. Mai angetreten hatte, wenn ihnen auch manche Station dieses Weges fehlte.
Dieser Weg hatte Winston in das Rote Fort geführt, auf die Seite der Rebellen, wo er Bahadur Shah den Treueeid leistete. Bekannt war er dort unter dem Namen Kala Nandi , Schwarzer Stier, nach dem Reittier Shivas, berüchtigt für die Kaltblütigkeit, mit der er seine eigenen Landsleute niedermetzelte, bewundert und geliebt von den meuternden sepoys , die er anführte. Zuletzt wurde er in der Nähe des Nana Sahib gesehen, des Herrschers von Bhithur, und es hieß, er habe eine nicht unbedeutende Rolle in den Massakern von Kanpur, im Osten des Landes, im Juni und Juli 1857 gespielt. Dort verschwand er plötzlich, bis sich Monate später ein Trupp Männer des 33. Regiments unter Oberst Henry Claydon aufmachte, den Verräter und Mörder zu jagen. Ab da war jeder Schritt des Weges mit der dem Militär eigenen Gründlichkeit hervorragend dokumentiert. Sowohl Mohan als auch Ian war bewusst, dass sie Kopf und Kragen riskierten, in den geheimen, streng unter Verschluss gehaltenen Unterlagen spionieren zu lassen, aber sie nahmen es in Kauf, so wie Ian, ohne mit der Wimper zu zucken, die hohen Summen an Bestechungsgeldern zahlte.
Fast ein
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