Himmel über Darjeeling
Gedanke an den verhassten Mann, der ihn ihr gegen ihren Willen verliehen hatte, ließ den Namen auf ihrer Zunge bitter schmecken.
Richard Carter sah sie versonnen an.
»Die schöne Helena, die Sonnige – von Theseus geraubt, mit König Menelaos von Sparta verheiratet, von Paris geliebt und Anlass für den grausamen, blutigen Krieg um Troja … Wie viel Verwirrung haben Sie in Ihrem Leben schon gestiftet?«
»Keine.« Eine unerklärliche Wehmut überfiel Helena. In diesem Augenblick schien ihr Leben bereits an ihr vorbeigezogen zu sein, grau in seiner Ereignislosigkeit, düster in seiner Ohnmacht.
»Dann werden Sie es vielleicht noch … bei mir ist es Ihnen jedenfalls gelungen.«
»Weshalb?« Helena sah ihn mit einem Ausdruck von Verblüffung direkt an.
»Nun«, er nippte an seinem Glas, »ich frage mich schon, weshalb eine so bezaubernde junge Dame auf einem Ball verloren in einer Ecke steht, anstatt sich zu amüsieren. Ich frage mich, wie Ihr Gatte es verantworten kann, Sie derart zu vernachlässigen, anstatt jede Minute in Ihrer Gesellschaft zu genießen.«
Eine helle Röte erschien auf Helenas Wangen, wie ein Widerschein ihres Kleides, vor Freude und Verlegenheit über diese ungewohnten Komplimente.
»Nun«, begann sie zögerlich, unsicher, wie sie reagieren sollte, ehe sie in einem Anflug von Zorn herausplatzte: »Er macht sich nicht allzu viel aus mir.«
»Das sollte er aber«, antwortete Richard leise und berührte sanft ihren Arm. »Weshalb hat er Sie sonst geheiratet? Geld? Ein Name, ein Titel?«
Helena lachte bitter auf. »Nein, ganz gewiß nicht.«
»Weshalb dann? Verzeihen Sie«, unterbrach er sich selbst mit einer fahrigen Geste, »ich wollte nicht – nicht indiskret sein. Nur – «
»Nein«, Helena schüttelte den Kopf, »Sie brauchen dafür nicht um Entschuldigung zu bitten.« Sie blickte starr in ihr Glas. »Ich weiß nicht, warum, wahrhaftig nicht.«
»Und Sie? Weshalb haben Sie ihm Ihr Jawort gegeben?«
»Ich – «, setzte Helena an, stockte, und in ihr schrie es, weil er mich gezwungen hat, weil er mir keine andere Wahl gelassen hat, weil er mich quälen will , und fügte doch nur kurz hinzu, erleichtert, sich jemandem anvertrauen zu können: »Weil ich musste.«
»Diese unsägliche Sitte der arrangierten Heirat«, knurrte Richard mit grimmiger Miene, mehr zu sich selbst denn zu Helena. »Selbst bei uns in Amerika wird sie in besseren Kreisen noch immer gepflegt, wenn wir auch sonst die Werte von Demokratie, Gleichheit und Freiheit so hochhalten.«
»Sind Sie – ich meine«, Helena geriet ins Stottern, errötete erneut, als ihr bewusst wurde, dass dies kein Gespräch war, das völlig Fremde miteinander führen sollten.
Doch er wusste, was sie fragen wollte, und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Nein. Ich bin ein hoffnungsloser Romantiker und suche noch immer nach der großen Liebe. Glauben Sie an die Liebe?«
Helenas Blick verlor sich in der tanzenden und schwatzenden Menge, als ihre Gedanken Jahre zurück schweiften. Sie dachte an die Bücher, die sie gelesen hatte, an die Stunden, die sie über die Klippen gewandert, mit Achilles den Strand entlanggaloppiert war, dem Drängen ihrer Phantasie folgend, den bittersüßen Schmerz einer Sehnsucht genießend, die kein Ziel kannte und doch da war, und an ihre Träume, in denen sie durch einen bösen Zauber gefangen gehalten war, und auf den Ritter wartete, der sie befreite, bis sie irgendwann den Glauben daran verloren hatte. Dann war Ian gekommen und hatte sie mitgenommen, nur, um sie in ein noch bedrückenderes Gefängnis zu sperren – auf Lebenszeit.
»Nein, nicht mehr«, antwortete sie schließlich hart, als sie Richard wieder ansah, mit einem kühlen Glitzern in den Augen.
Er erwiderte nachdenklich ihren Blick. Sie war eine seltsame junge Frau – sehr jung, wie er widerstrebend zugeben musste, vielleicht gerade halb so alt wie er, und doch wirkte sie reifer, als es ihrem Alter nach zu erwarten war. Unbeholfen und schüchtern stand sie da, fast verkrampft, so ganz anders als die jungen Damen der Gesellschaft, die sich – trotz tugendhafter Zurückhaltung ihres Standes – ihrer äußeren Erscheinung und damit ihres Wertes bewusst waren, ernsthaft oder in Koketterie darum bemüht, zu gefallen. Doch da war noch etwas anderes, in einer Bewegung von ihr, einem Blick, der Art, wie sie ihre Brauen zusammenzog, hörbar in der Betonung einer Silbe, eines Wortes – etwas, das ihn neugierig machte, ja faszinierte. Es erinnerte
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