Himmel über Darjeeling
Schulter zu, ehe sie sich mit ihm unter die sich drehenden Paare einreihte.
Helenas Magen krampfte sich zusammen, als sie zusah, wie sich Ians Mund beim Tanzen Lady Fitzwilliams Ohr näherte, sie den Kopf zurückwarf und laut lachte, ehe sie sich wieder enger an ihn schmiegte. Und auch jetzt, während Ian mit jedem Tanz eine andersfarbig gekleidete Dame in den Armen hielt, ließen allein der Gedanke an all die Demütigungen Tränen in ihren Augen aufsteigen, und sie biss sich auf die Unterlippe, um sie zurückzuhalten.
Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie aufsehen. Inmitten der älteren Ladys und Gentlemen, die sich damit begnügten, den Tanzenden zuzusehen und den neuesten Klatsch und Tratsch über die Vorüberwirbelnden auszutauschen, stand ein Gentleman und sah sie an. Nicht auf diese neugierige, besitzergreifende Art, eher forschend, in einer stummen Frage. Er überragte die meisten Umstehenden um knappe Haupteslänge, breitschultrig, kräftig, ohne plump zu wirken. Er strahlte Ruhe und Kraft aus – die Kraft eines Mannes, der körperlich hart gearbeitet hat, und die Ruhe, die aus einer reichen Lebenserfahrung erwächst. Helena wusste, dass es ungehörig war, diesen Blick zu erwidern, doch sie konnte nicht anders. Er machte eine kleine Bewegung, als wollte er sich abwenden, doch dann kam er direkt auf sie zu, indem er sich geschickt durch die lachende und plaudernde Gesellschaft hindurchmanövrierte.
Helena erstarrte. Wenn sie auch wenig über gesellschaftliche Umgangsformen wusste, so kannte sie doch das größte Tabu: Personen, noch dazu verschiedenen Geschlechts, mussten einander vorgestellt werden, durften niemals von sich aus die Initiative ergreifen, doch das schien diesen Gentleman nicht zu kümmern. Hastig sah sie sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, doch um sie herum schien von einem Augenblick zum nächsten eine undurchdringliche Mauer aus Seide, Organdy und Samt aus dem Boden emporgeschossen zu sein, die ihr ein Entkommen unmöglich machte. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie konzentrierte sich krampfhaft auf die Spitze ihres Schuhs, die unter dem Saum ihres Kleides hervorschaute.
Mit unbeteiligtem Gesichtsausdruck stellte er sich neben sie an die Wand, die Hände auf dem Rücken seines tadellos sitzenden Fracks verschränkt, offenbar interessiert das Treiben im Saal beobachtend. Verstohlen betrachtete Helena ihn von der Seite. Sein glatt rasiertes Gesicht unter dem zurückgekämmten braunen Haar war kantig, verriet Entschlossenheit und Mut. Es war nicht das feingeschnittene Gesicht eines Adligen: Eine hohe, breite Stirn ging in eine massive Wangen- und Kinnpartie über, mit einer kräftigen, vielleicht einer Spur zu breiten Nase, die eine leichte Krümmung aufwies, wie von einer lange zurückliegenden Schlägerei. Aus der Nähe sah er älter aus; eine steile Falte zwischen den Augenbrauen und zwei senkrecht zu den Mundwinkeln herablaufende Linien verrieten, dass er den vierzig nahe war. Es war ein großzügiges Gesicht, standhaft, robust, aber der Ausdruck in seinen Augen und seine schmalen, aber weichen Lippen verrieten Gefühl und Sensibilität.
»Ich hatte schon geglaubt, ich sei der Einzige, der sich heute Abend hier nicht amüsiert«, sagte er nach Weile in den Raum hinein.
Helena schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. »Nein.«
»Obwohl es mich schon erstaunt, eine junge Lady wie Sie nicht tanzen zu sehen.«
Helena blieb stumm; sie schämte sich zu sehr, um zuzugeben, dass sie es nie gelernt hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie er sie eindringlich musterte.
»Sie sollten einen Schluck trinken.« Er winkte einen der Stewards herbei und nahm zwei Champagnergläser von dem Tablett.
Das kühle Getränk prickelte auf ihrer Zunge und hinterließ eine angenehme Wärme im Magen, die sich weiter ausbreitete. Sie spürte, wie ihre Befangenheit von ihr abfiel.
Prüfend sah er sie an. »Besser?«
Helena nickte, und ein kleines Lächeln flog unwillkürlich über ihr Gesicht.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle – Richard Carter.« Er streckte ihr seine Rechte hin, und als seine Lippen die Seide ihres Handschuhs streiften, durchströmte sie eine wohlige Wärme. Sein Blick war wissend, als er sich wieder aufrichtete, als hätte er es ihr an den Augen abgelesen, was sie empfand, und der dunkle Bernsteinton seiner Augen, halb unter der hervorspringenden Brauenpartie verborgen, vertiefte sich, verströmte Wärme.
»Helena L… – Neville.« Nicht die Fremdheit, sondern der
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