Himmel über dem Kilimandscharo
hinunter zum Strand, wobei das nasse Kleid noch zusätzlich ein paar rötlich gelbe Flecke bekam. Darauf kam es jetzt auch nicht mehr an, sie würde die Sachen sowieso waschen müssen. Sie zog Schuhe und Strümpfe aus und lief barfuß durch die kleinen Wellen, die sanft über den weißen Strand schwappten, spürte entzückt die kitzelnde Kühle des Wassers und den weichen Sand, in den sich ihre Zehen eingruben. Das Glück, dachte sie. Man soll es fassen, wenn es vorüberkommt. Aber es ist eine schwierige Sache. Es ist wie das Eis, das oben auf dem Kilimandscharo liegt. Wem es tatsächlich gelingt, eine Handvoll davon zu greifen und die glitzernden Sternchen hinunter ins Tal zu tragen, dem werden sie dort zu Wasser zerfließen. Sie bückte sich ab und an, um eine Muschel aufzuheben oder ein angeschwemmtes Holz zu betrachten, und kam sich vor wie eines der schwarzen Kinder, die drüben bei einem umgedrehten Fischerboot hockten und kleine Hölzchen warfen. Sie besaßen nichts als ihre Fröhlichkeit und den süßen Augenblick des Spiels. Bestand darin das wahre Glück? Anstatt rastlos einem Traum nachzujagen, der doch unerfüllbar blieb, einfach nur die Wärme der Sonne, das sanfte Geräusch der Wellen und den schmeichelnden Wind zu genießen? Ein Glück, dessen sie sich nie gewahr geworden war, obgleich es doch direkt vor ihren Augen lag.
Einer der kleinen Segler hielt auf den Strand zu, lief auf, und die drei Insassen mühten sich, das Boot auf den Sand zu ziehen. Neugierig schaute sie ihnen zu und überlegte, ob es Fischer waren, die jetzt schon von ihrer Fahrt zurückkehrten. Doch die Männer sahen eigentlich nicht wie Fischer aus, hatten auch keine Netze an Bord. Sie schlugen einen Pflock in den Sand und vertäuten das Boot, damit die Flut es nicht davontrug. Dann schienen sie die Abbruchkante hinaufklettern zu wollen, blieben jedoch dicht davor stehen und starrten zu ihr hinüber. Ihr wurde ein wenig unbehaglich zumute, denn es war niemand in der Nähe außer den schwarzen Kindern; das gut bewachte Munitionsdepot der deutschen Schutztruppe befand sich noch ein ganzes Stück entfernt.
Einer der drei Männer lief auf sie zu. Ein schmaler, sehniger Bursche, nur mit kurzer Hose und einem offen stehenden, weiten Hemd angetan, das schwarze Haar war nicht kraus, sondern wellig und schulterlang. Hatte sie ihn nicht schon einmal irgendwo gesehen?
» Frau Ohlsen?«
Woher kannte er ihren Namen? Er blinzelte gegen die Sonne, während seine Hände in einer Innentasche seines Hemds herumsuchten, dann zog er einen zusammengefalteten Zettel heraus, warf einen kurzen Blick darauf und reichte ihn ihr.
» Was ist das?«
» Nehmen und lesen«, forderte er sie kopfnickend auf. » Aber niemandem zeigen. Guten Freund nicht verraten.«
Er schien nicht abwarten zu wollen, ob sie seinen Rat befolgte, sondern lief zu seinen beiden Begleitern zurück, sprach ein paar Worte mit ihnen, dann machten sich alle drei daran, die steile Kante emporzuklettern, wie sie es offenbar vorgehabt hatten. Charlotte blieb unschlüssig stehen, die Botschaft in der Hand. Die herangleitenden Wellen umspülten ihre Fußknöchel; wenn sie sich zurückzogen, zogen sie den sandigen Grund unter ihren Füßen mit sich fort. Endlich gab sie sich einen Ruck und entfaltete den Zettel.
Liebe Freundin, war in kleiner, verschnörkelter Schrift zu lesen. Ich habe Ihnen Kummer bereitet, das war nicht meine Absicht, und ich bitte Sie, mir zu vergeben. Daressalam ist kein guter Ort mehr für Geschäfte, doch es werden bessere Zeiten kommen. Verkaufen Sie alle Waren und die Einrichtung Ihres Ladens, und fahren Sie mit dem Küstendampfer hinüber nach Sansibar. Nahe dem Hafen finden Sie ein blaues Haus, über die Eingangstür ist eine Palme gemalt, daneben zwei Sterne. Dort fragen Sie nach mir. Ich werde Ihr Helfer und Beschützer sein, so wie ich es auch in Daressalam gewesen bin.
Kamal Singh
Sie musste den kurzen Text zweimal lesen, um den Sinn zu begreifen. Kamal Singh– sie hatte geglaubt, nie wieder etwas von ihm zu hören. War das der Ausweg? Nach Sansibar zu reisen und dort ein Geschäft unter seinem Schutz zu eröffnen? Auf jener immergrünen Insel, diesem Eiland aus Palmen, Licht und Düften, das in ihrer Erinnerung zugleich mit der unheilvollen Sehnsucht nach George verbunden war?
Sie spürte, wie sich etwas in ihr gegen diese verführerische Aussicht widersetzte. Nein, es war nicht der Gedanke, dass ihr der palmengesäumte, weiße Strand ohne George leer und
Weitere Kostenlose Bücher