Himmel ueber fremdem Land
ließ Karl den Buchhalter los, der sofort ein paar Schritte von ihm forttaumelte und den wuchtigen Schreibtisch zwischen sich und ihn brachte, ehe er sein Jackett stramm zog und sich mit beiden Händen das Haar ordentlich zurückstrich.
In Karls Kopf setzten sich die Informationen zu einem Bild zusammen. Einem Bild, das ihm gründlich missfiel! »Dieser Kerl, der über eine Stunde bei Ihnen war, ist der Investor? Dieser Nachbaur?«
»Sie sagen es. Und ich betone noch einmal, Roth, dass ich inständig hoffe, dass Sie ihn keinesfalls so rüde behandeln, wie sie es soeben bei mir taten!«
»Nein. Und entschuldigen Sie«, stammelte Karl und ließ sich unaufgefordert auf einen Stuhl fallen.
Stichmann ließ sich zögernd ihm gegenüber auf seinen Drehstuhl mit den gedrechselten Armstützen nieder, faltete seine schlanken, gepflegten Hände und schien einfach darauf zu warten, was nun geschah.
Durch die verschmutzten Fenster fielen ein paar zögerliche Sonnenstrahlen und malten fleckige Muster auf den derben Dielenboden. Staubnester drückten sich in die Ecken und die Fugen, als versuchten sie vergeblich, sich zu verstecken. Ein brauner Käfer krabbelte durch den Lichtstrahl und suchte sein Heil in der Flucht unter eine krummbeinige Kommode. Während Karl diese nebensächlichen Eindrücke in sich aufnahm, versuchte sein Gehirn, das soeben Erfahrene einzuordnen.
Inwieweit der Buchhalter in die ganze Sache eingeweiht war, entzog sich Karls Wissensstand. Aus Sicherheitsgründen pflegten sie eine größtmögliche Anonymität und vorsichtshalber verschwieg er seine Überlegungen. Leutnant Meindorff hatte sich in Zivil gekleidet als Investor aus Preußen ausgegeben, was bedeutete, dass er die geraubten Zehnkaräter zu Gesicht bekommen hatte. Selbstverständlich konnte sich van Campen noch immer damit herausreden, er habe die Steine jemandem abgekauft; auf diese Weise würde er sich vermutlich nicht mehr als eine Abmahnung oder eine Geldstrafe einhandeln.
Was aber würde geschehen, wenn Meindorff tiefer grub? Konnte er dabei auf Karl stoßen? Welche Folgen standen zu befürchten, sollte durchsickern, dass die Diacamp-Company die Schürfrechte der aus Angst vor weiteren Überfällen aufgegebenen Claims erworben hatte? Führte nicht spätestens ab diesem Zeitpunkt eine heiße, konkrete Spur zur Diacamp?
Karl sah sich erneut in der Verliererrolle. Vermutlich würde van Campen alles Karl in die Schuhe schieben, um seinen Hals zu retten. Schließlich war er es auch, dem das Blut an den Händen klebte.
Wieder knackte Karls Unterkiefer. Mechanisch öffnete er kurz den Mund, damit sich die schmerzhafte Blockade löste. Sein Vorteil war, dass er Meindorff gesehen hatte und nun um seine Scharade wusste. Noch war er diesem aufgeblasenen Kerl ein paar Schritte voraus. Die altvertraute Wut begann in ihm zu brodeln, suchte nach einem Ventil. Karl atmete tief ein und ballte seine Hände zu Fäusten. Jetzt galt es, seinen Vorsprung klug und vor allem erbarmungslos zu nutzen!
Kapitel 30
Magdeburg, Deutsches Reich,
Juli 1908
Edith verzog bei dem Lärm in der Montagehalle der Maschinenfabrik Buckau das Gesicht und beeilte sich, den lang gezogenen Gang zwischen den Werkbänken hinter sich zu lassen. Dabei klapperten ihre Absätze laut auf den Bretterboden, der mit Metallspänen, heruntergefallenem Werkzeug und defekten Eisenteilen übersät war. Die Arbeiter in ihrer verschmutzten Arbeitskleidung hoben nicht einmal die Köpfe, sondern setzten weiterhin Lokomotiventeile zusammen, feilten, hämmerten und schweißten.
Endlich erreichte Edith die Tür zum Treppenhaus, ging hindurch und schloss zumindest einen Teil der Geräuschkulisse aus, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte. Wenig später betrat sie den Arbeitsraum mit seinen in Reihen angeordneten Tischen. Trotz ihrer beachtlichen Größe ließen die Fenster an diesem trüben Tag nicht genügend Licht ein, sodass die Deckenlampen über den Arbeitsplätzen angeknipst worden waren.
Edith ließ die Mappen aus ihrem Arm auf ihren Schreibplatz rutschen und setzte sich auf den knarrenden Holzstuhl. Während sie ein frisches Blatt Papier in die Blickensderfer Electric 37 spannte, hörte sie an den Nebentischen Sigrid und Frida aufgeregt tuscheln. Was die beiden wohl zu besprechen hatten? Edith lächelte, beachtete ihre Freundinnen aber nicht weiter, sondern schlug die oberste Akte mit den stenografierten Notizen auf und begann, den Laufzettel mit dem von ihr zuvor gezählten
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