Himmel ueber fremdem Land
wand sich ein Labyrinth aus schmutzigen Gassen und gefährlichen Winkeln, in denen eine viel zu große Anzahl Menschen unterschiedlichster Herkunft hauste, die sich teilweise bis aufs Blut verachtete. Das Ganze wirkte wie eine eigene, in sich abgeschlossene Welt.
»Und jetzt schau in die andere Richtung.«
Erneut gehorchte Demy und blickte auf die herrschaftlichen Bauten, geschmückt mit Säulen, Stuckornamenten und kleinen Türmchen, erleuchtet von modernen Elektrolampen in breiten, sauberen Straßen, umgeben von sorgsam gestutzten Hecken.
»Du stehst hier auf dieser Brücke; dort drüben ist die helle, saubere Welt mit bestem Essen, schöner Kleidung und großen Häusern, und hier drüben ist die andere, düstere Welt, ohne Hoffnung auf ein besseres Leben, wo die Menschen trotz harter Arbeit immer im Mangel leben, und jeden Tag Angst davor haben, ihre Arbeit zu verlieren, ihre Kinder hungern zu sehen. Du hast die Wahl. Wohin wirst du gehen?«
Bedrückt senkte Demy den Kopf und blickte auf das unter der Brücke hindurchrauschende schwarze Nass. Lieselotte kannte natürlich ihre Antwort. Ihre Freundin lebte zwischen den schimmelnden, düsteren Mauern wie eine Gefangene. Dort gab es wenig Grund zur Freude. Das Leben war geprägt von harter Arbeit, Not und Angst und von den immer gleichen Stimmen. Diese hielten ein intelligentes Mädchen wie Lieselotte klein, sagten ihr, sie sei nicht zu Höherem bestimmt.
Bereits bei ihrem ersten Treffen hatte die junge Frau Demy verraten, wie sehr sie sich auf den Umzug in die Stadt gefreut hatte; schließlich war ihre Familie auf dem Land von der Gunst des Gutsherrn abhängig gewesen, vom Wetter und der Gesundheit ihrer Milchkühe. Kleingeistigkeit, Engstirnigkeit, der Druck einer strengen Erziehung durch das Elternhaus, durch die Lehrer und den Dorfgeistlichen hatte Lieselottes nach Freiheit strebenden Geist fast verkümmern lassen.
Was aber war aus ihren Träumen geworden? Anstatt sich weiterzubilden, schuftete sie in einer Fabrik, deren Eigentümer sie einen Sklaventreiber nannte. Die Löhne waren miserabel, die Arbeitsbedingungen nicht besser, und jeden Tag warteten Hunderte von Leuten vor den Fabriktoren darauf, ihren Platz einzunehmen.
Als Lieselotte zu reden fortfuhr, riss sie Demy aus ihren Überlegungen. »Julia Romeike befand sich ebenfalls auf dieser Brücke. Sie stand vor der Wahl zu springen – oder nach links oder nach rechts zu gehen. Der Weg nach links war ihr von Geburt aus nicht offen. Also ging sie nach rechts, behielt das linke Ufer aber immer im Blick. Sie ließ nichts unversucht, um sich einen reichen Mann zu angeln, der ihr ein angenehmeres Leben bieten würde. Mit Sicherheit gab es vor oder neben Meindorff andere Kerle. Aber wenn du mich fragst, besitzt sie ihre noble Wohnung am linken Ufer zu Recht und braucht das rechte nur noch für ihr Versteckspiel.«
»Ich verstehe ihren Wunsch nach einem besseren Leben durchaus. Aber deshalb muss ich ihren Weg nicht gutheißen!«
»Nein, Demy, das musst du nicht. Ihr Kapital ist ihre Schönheit, ihre Anmut, mit der sie auf jedem Ball des Adels für Aufsehen sorgen – oder besser: gar nicht auffallen würde! Dieses Kapital hat sie investiert. Wer weiß, womöglich hatte sie ursprünglich vor, sich einfach einen gutsituierten Mann zu schnappen. Vielleicht ließ der sie fallen. Es könnte auch sein, dass er ihr eine Ehefrau und Kinder verschwieg. Wenn du Julias Tun verurteilst, musst du auch diejenigen verurteilen, die sie ausnutzen, ebenso wie die, die nicht bereit sind, ein Stück ihres Wohlstands abzugeben. Übrigens solltest du dann auch mich verdammen. Denn auch ich richte den Blick auf die linke Seite. Weil auch ich Nahrung, Bildung, Sicherheit, ein Wahlrecht und vieles mehr will.«
»Du solltest Reden halten.«
»Das tue ich doch.« Lieselotte lachte trocken auf und hakte sich bei ihr unter.
»Aber was fange ich jetzt mit meinem Wissen über Joseph und Julia Romeike an?«, seufzte Demy bedrückt. Gemeinsam blickten die beiden Mädchen auf das Wasser und ließen den Wind an ihren Haaren, Blusen und Röcken zerren.
»Das ist wieder so eine Brückensituation, die dich zu einer Entscheidung zwingt. Entweder du gehst in die eine Richtung und teilst deiner Schwester deine Entdeckung mit – mit allem, was daraus folgt –, oder du schweigst und alle behalten ihr kleines Stück vom Glück.«
»Wie kann ich das entscheiden?«
»Ich weiß es nicht.« Lieselotte zuckte so heftig mit den Achseln, dass Demy
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